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Hymne an die Buchstaben

Von Todor Ovtcharov

Politik

Das Fest der kyrillischen Schrift entstand im 19. Jahrhundert.


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Wien. Es gibt keinen anderen europäischen Feiertag wie diesen: einen Feiertag des Alphabets. Am 24. Mai feiert man in Bulgarien, Mazedonien und Russland die Erfindung der kyrillischen Schrift. Vor den Denkmälern des Heiligen Kyrill und Methodius, den "Erfindern" der kyrillischen Schrift, werden Blumensträuße hinterlegt und in den Kirchen Gottesdienste gefeiert. Die Diaspora feiert mit: Auch in Wien werden Blumen beim Denkmal von Kyrill und Methodius hingelegt.

"Ich habe gelernt, alle hiesigen Feiertage mit meinem Ehemann - er ist Österreicher - zu feiern. Nur den 24. Mai empfinde ich als etwas Besonderes, das ich meiner Familie weitergegeben habe", erzählt eine gebürtige Bulgarin, die seit 20 Jahren in Wien lebt. Der 24. Mai sei für sie ein "Fest des Buches", weshalb sie ihren Kindern an diesem Tag ein Buch schenkt. Wie auch andere ihrer Landsleute ist sie stolz auf ihr Alphabet. "Ich habe alles getan, damit meine Kinder auf Kyrillisch schreiben und lesen können, und sie jeden Sonntag zur bulgarischen Schule in Wien geschickt. Eine Sprache ist niemals unnütz. Für Bulgarisch braucht man nur 30 neue Buchstaben."

Aus ihrer Kindheit ist ihr eine bulgarische Gepflogenheit am 24. Mai lebhaft in Erinnerung geblieben: "Ich werde niemals vergessen, wie wir als Schüler unsere Lehrer mit Blumen überschüttet haben." Alle Lehrer, Schüler und Kunstschaffende feiern an diesem Tag. Die Bulgaren singen eine den Buchstaben gewidmete Hymne, in der es heißt: "Vorwärts, das Wissen ist eine Sonne, die in den Herzen scheint".

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Bulgarien eine nationale Bewegung, die um Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich kämpfte. Damals wurde der Feiertag der kyrillischen Schrift eingeführt und 1851 erstmals gefeiert. Die heiligen Kyrill und Methodius haben die slawischen Sprachen verschriftlicht. Erfinder des Kyrillischen sind sie aber nicht. Der jüngere der beiden Brüder - Konstantin, der kurz vor seinem Tod den Ordensnamen Kyrill übernommen hat - entwickelte erstmals eine Schrift für die slawischen Sprachen, genannt Glagoliza, in der er eine altslawische Übersetzung der Bibel schrieb. Erst seine Schüler entwickelten die kyrillische Schrift. Die meisten kyrillischen Zeichen wurden aus dem griechischen Alphabet übernommen, für Laute, die es im Griechischen nicht gab, wurden glagolische Zeichen verwendet.

Methodius und Kyrill waren byzantinische Diplomaten und christliche Missionare. In Bulgarien sind sie als "Gebrüder aus Thessaloniki" bekannt. Weil Thessaloniki die größte Stadt des geografischen Raums Mazedonien ist, in dessen Gebiet sich heute Teile von Griechenland, der Republik Mazedonien und Bulgarien befinden, werden beide Heilige in der Schule als Bulgaren bezeichnet - und in der Republik Mazedonien als Mazedonier. Beides sind nachträgliche, nationale Konstruktionen.

Streit um Papst-Audienz

Seit einiger Zeit streiten Bulgaren und Mazedonier darüber, woher die "Brüder aus Thessaloniki" nun stammen - ob aus Bulgarien oder Mazedonien. Das führt Jahr für Jahr zu Zwistigkeiten rund um eine Audienz beim Papst: 1980 erhob Papst Johannes Paul II. die Heiligen zu Patronen Europas. Seitdem besucht alljährlich eine bulgarische staatlich-kirchliche Delegation das Grabmal des heiligen Kyrill in Rom und bekommt eine Audienz beim Papst. Eine mazedonische Delegation tut das ebenfalls, und so streiten sich beide seither, wer zuerst vom Papst empfangen werden soll.

Heute werden etliche Sprachen mit kyrillischen Zeichen geschrieben, darunter Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch, zahlreiche weitere Sprachen in Osteuropa, Sibirien, dem nördlichen Kaukasus und Zentralasien, sowie Mongolisch und Dunganisch, ein chinesischer Dialekt. Die Alphabete der Sprachen unterscheiden sich nur durch einige wenige Zeichen. Seit dem Beitritt Bulgariens zur EU ist Kyrillisch neben der lateinischen und der griechischen Schrift eine der drei offiziell verwendeten Schriften der EU.

"Für mich ist der 24. Mai nicht nur ein Nationalfeiertag. Er ist ein persönlicher Feiertag, der seinen Sinn durch die Jahre immer gewandelt hat und mich von meiner Kindheit bis zu diesem warmen Wiener Nachmittag begleitet hat", erzählt Ljubka Lipceva-Prandzeva, Dozentin der Fachrichtung Bulgaristik an der Uni Wien. Zunächst war für sie der 24. Mai ein Feiertag der Buchstaben. Später, als Studentin interessierte sie sich als einzige Slawistin mehr für das vernachlässigte Glagoliza. Erst durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem 19. Jahrhundert "habe ich verstanden, warum die Bulgaren gerade den Tag der kyrillischen Schrift zu ihrem Nationalfeiertag gewählt haben. Nun verbinde ich mit dem 24. Mai das Feiern mit meinen Studenten in Wien."

Heuer findet erstmals ein Wettbewerb für Studenten der Bulgaristik an der Uni Wien statt. Am 24. Mai überreicht die bulgarische Botschafterin den Preis - eine Geldprämie von 1000 Euro - im Haus Wittgenstein. Ausgezeichnet wird die Mitwirkung an Initiativen zur interkulturellen Zusammenarbeit, wie der Übersetzung eines literarischen Textes, der Organisation studentischer Kulturinitiativen oder der Vorstellung kultureller Ereignisse in Bulgarien und Österreich.