Der Bub gehe schlampig, das wachse sich schon aus, sagte der Gemeindearzt. Es wuchs sich nicht aus. - Über das Leben mit einer Fehlstellung der Hüften.
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Man wird wohl nicht sonderlich genau hingeschaut haben. Falls überhaupt. An jenem späten Augusttag des Jahres 1953, an dem meine Mutter mich im Landeskrankenhaus Bruck an der Mur gebar, hatte man offenbar Besseres zu tun. Dabei hätte ein Blick genügt. Hätte man hingesehen, hätte man sie sehen müssen, jene Verschiebung der Pobacken, untrügliches Zeichen für eine Hüftgelenksdysplasie.
Ein paar Monate breit wickeln, eventuell eine Spreizhose - und der Fall wäre erledigt gewesen. Hat man aber nicht. Die Fehlstellung wurde nicht korrigiert, sondern ignoriert. Sie verfestigte sich. Und sie bleibt einem dann. Ein Leben lang. Oder zumindest so lang, bis die verformten Teile, wenn sie sich entsprechend abgenutzt haben, durch neue Teile aus Titan, Keramik oder Kunststoff ersetzt werden müssen.
Jedes zwanzigste bis dreißigste Kind in unseren Breiten kommt mit einer mehr oder minder gravierenden Fehlstellung der Hüften auf die Welt. Ich war eines davon. Und es hat lange gedauert, sehr lange sogar, bis mir klar wurde, dass ich keine Schuld trug an meiner Unzulänglichkeit.
Als Kind war ich schwach, mit meinen krummen, dünnen Beinen. Meine Eltern zwangen mich in kurze Hosen, der Trainer der Schülermannschaft, er war Briefträger, ließ mich nicht mitspielen. Ich saß auf der Bank des kleinen Fußballfeldes und sah zu.
Ich sei faul, sagte der Großvater, wenn ich körperliche Arbeiten scheute oder zu rasch ermüdete. Ich konnte nicht mit dem Herrenfahrrad fahren, weil ich es nicht, wie alle anderen, mit ausholendem Beinschwung über die Stange und über den Sattel schaffte. Buben fuhren Herrenfahrräder, das war eine Frage der Ehre. Erst als ich bereits erwachsen war und schon lange nicht mehr zu Hause lebte, schaffte ich mir ein Damenfahrrad an.
Mit vielleicht acht oder neun Jahren brachte meine Mutter mich zum Gemeindearzt. Sie fand, dass irgendwas nicht stimmte mit dem Buben. Er ließ mich in Unterhosen zwei Mal diagonal durch seine Praxis gehen. Ich gehe halt schlampig, sagte der Doktor, ich solle mich zusammenreißen, dann wachse sich das schon aus.
Fortan wurde ich gemahnt, gerügt und bestraft, wenn ich nicht ordentlich ging. Für den Sonntag kauften mir die Eltern eine kurze Hose aus schwarzem Samt. Ich freute mich auf den Herbst und auf den Winter. Lange Hosen waren besser als kurze. Sie verbargen den Makel, stellten ihn nicht aus.
Im Turnunterunterricht, später, im Gymnasium, war ich in so ziemlich allem Vorletzter. Ich konnte nicht über Hürden springen, brachte die Beine weder hoch noch auseinander.
Nur ein noch kleinerer, pummeliger Junge, der aber immerhin einer verarmten Adelsfamilie entsprang, war noch ungeschickter als ich. Ich vermied Schwimmbäder, weil ich mich meiner Beine wegen schämte, und studierte in Auslagenscheiben meinen unrunden, holprigen Gang. Ich ging auf und ab. Versuchte, das Becken nach vorne zu drücken, versuchte es mit kurzen Schritten - und mit langen. Es half alles nichts.
Menschen, die mir auf Gehsteigen begegneten, senkten für ein paar Zehntelsekunden den Blick, registrierten eine Störung in meinem Gangbild, blickten peinlich berührt zu Boden oder an mir vorbei. "Hadschad sei is ned leichd", sagt Christine Nöstlinger in ihrem Gedicht "I hadsch!": "De an schaun wega, ois dedads di goa ned gem, und de aundan schaun bled und frogn: Wia is den basiad?"
Beim Skifahren im besten Teenageralter zog ich mir einen komplizierten, doppelten Beinbruch zu. Ich brachte die Beine nicht auseinander, als ich in den Tiefschnee geriet. Fast ein halbes Jahr lang war ich vom Turnunterricht befreit. Das linke Bein war danach zwar etwas kürzer, aber immerhin - die Scham pausierte, ich mochte meinen Gips.
Dankbar für Diagnose
Ausgerechnet die Musterung, die verhasste, führte zu einer ersten Entlastung. Der Militärarzt, der uns der Reihe nach antreten ließ, erkannte, dass mit meinen Beinen etwas nicht stimmte. Er schickte mich zu einem Orthopäden, dieser zum Röntgen. Hüftgelenksdysplasie, lautete die Diagnose. Nicht schwer, aber doch.
Nie zuvor hatte ich das Wort gehört. Hätte leicht vermieden werden können, sagte der Mann im weißen Kittel. Ich war dankbar für die Diagnose. Erstens musste ich nicht zum Militär, zweitens hatte ich mich bis dahin für eine selbstverschuldete Fehlkonstruktion gehalten. An der Fehlkons-truktion hatte sich durch die neue Einsicht nichts verändert. Aber immerhin. Ich war nicht mehr schuld an meinem Versagen.
Früher oder später, sagte der freundliche Orthopäde, werde man mir künstliche Hüftgelenke einbauen müssen. Allerdings besser später als früher. Denn Hüftgelenke, sagte er, halten im Durchschnitt nur fünfzehn Jahre. Dann beginnt sich die Verbindung zwischen dem künstlichen Teil und dem Knochen zu lockern.
Das war damals so. Da man nicht mehr als zwei Mal operieren könne, müsse ich von hinten zu rechnen beginnen. Wenn ich gedächte, achtzig zu werden, könne man mich zum ersten Mal mit fünfzig und zum zweiten Mal mit fünfundsechzig operieren. Mit achtzig sei es dann wahrscheinlich wurscht, ob ich mich noch auf Beinen halten könne. Bis dahin müsse ich durchhalten.
Ich war neunzehn, damals. Und ich dachte nicht daran, mich einzuschränken. Ich fuhr weiterhin Ski, wenn auch schlecht, ich spielte Tennis, auch wenn ich im Regelfall verlor, ich ging auf Reisen, auch wenn mir Flughäfen mit ihren Warteschlangen unerträglich waren. Nur das Tanzbein schwang ich nie. Ich traute meinem Körper nicht. Er bewegte sich nicht, wie er sollte. Ich wollte mir und anderen die Peinlichkeit ersparen.
Die Schmerzen ließen dennoch nicht lange auf sich warten. Meine Hüftgelenke wollten nicht belastet werden. Längeres Stehen verursachte mir Beschwerden, ich begann Großkaufhäuser, Museen und Ausstellungen zu meiden. Ich vermied es, zu tragen und zu schleppen, die Rotationsmöglichkeiten meiner Beine waren eingeschränkt. Ich brach mir eine Kniescheibe bei einer Veranstaltung im ORF-Funkhaus und einen Rückenwirbel in Uganda, mehrfach die Rippen, riss und verletzte Bänder und Sehnen.
Problem Schuhe
Ich stürzte, da ich keine Ausfallschritte machen konnte, öfter als andere und geriet in die Hände einer wohlmeinenden Orthopädin und einer gestrengen, aber ebenso wohlmeinenden Physiotherapeutin. Man riet mir ab, mich vorzeitig operieren zu lassen, und setzte auf konservative Methoden. Die Krankheit begann kostspielig zu werden.
Zunächst mussten die Schuhe daran glauben. Alle die schönen Schuhe mit ihren Ledersohlen und harten Absätzen erwiesen sich als nicht mehr tragbar. Neue mussten angeschafft werden. Und es war nicht einfach, einigermaßen elegante Schuhe, die gleichzeitig orthopädischen Ansprüchen genügen sollten, zu finden. Ich kaufte Schuhe und warf sie in die Tonne. Sie waren zu hart oder zu weich, zu eng oder zu weit oder verfügten nicht über das gewünschte Abrollverhalten.
Zudem musste ein Beinlängenunterschied von eineinhalb Zentimetern ausgeglichen werden können. Über viele Jahre hindurch wurde aus meinem Hüftproblem ein Schuhproblem. Ich war fixiert auf Schuhe. Sneakers und Turnschuhe verweigerte ich. Sie wären mir als die Anerkennung einer Niederlage erschienen.
Noch heute, wenn ich nicht einschlafen kann, zähle ich - wie andere Menschen Schafe - die unzähligen Paar Schuhe, die ich gekauft und nicht getragen habe. Von Sandalen ganz zu schweigen. Ich rechne hundertfünfzig Euro für jedes Paar, das ich gekauft und wieder entsorgt habe. Viel Geld. Und ich bin wütend darüber, dass andere Menschen Schuhe tragen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
Nicht weniger kostspielig und nicht weniger dramatisch ist die Sache mit den Hosen. Die Fehlkonstruktion meiner Körpermitte musste verhüllt werden - oder zumindest kaschiert. Jeans gingen gar nicht. Schon gar nicht enge Jeans. Sie hätten meine Unansehnlichkeit bloß verstärkt und ausgestellt.
Weite Bundfaltenhosen waren gut. Und damit die Achtzigerjahre. Hosen, wie Robert Redford sie im "Großen Gatsby" trug, waren perfekt. Mit einem Bund oberhalb des Bauchnabels, darunter wallende, luftige Stoffbahnen, die sich erst auf Kniehöhe wieder zu verjüngen begannen. Arabische Dischdaschas wären für mich perfekt oder indische Dhotis, körperbetonte Kleidung ist mir ein Gräuel.
Problem Hosen
Leider waren sie irgendwann zu Ende, die Achtzigerjahre. Die Bundfaltenhosen waren verschwunden. Eine Weile lang kaufte ich Kleider in Indien. Die Inder sind schlank, wie ich, und haben es wegen der Hitze gerne luftig. Wenn ich heute, ohne große Hoffnung, in ein Herrenmodengeschäft gehe und höflich frage, ob es noch - oder schon wieder - Bundfaltenhosen gäbe, ernte ich bestenfalls ein mitleidiges Lächeln. Der Herr habe sich wohl im Jahrhundert geirrt, gibt man mir zu verstehen. Ich weiß, sage ich dann, aber angeblich kommt ja jede Modeströmung wieder zurück. Ich warte vergeblich.
Und so geht es mit den Hosen ähnlich wie mit den Schuhen. Gekauft und verworfen. Ich muss, falls all die Hosen, die ich gekauft und bald wieder zur Altkleidersammlung gebracht habe, in irgendwelchen bedürftigen Weltgegenden gelandet sind, viele Männer glücklich gemacht haben. Sie müssten gut passen, meine Hosen. Größe 48, funkelnagelneu.
Sitzen und liegen
Der Ausweg aus dem kostspieligen Dilemma ist nicht minder kostspielig. Irgendwann habe ich mich entschlossen, mir meine Hosen maßschneidern zu lassen. Bundfaltenhosen mit unterschiedlichen Beinlängen. Es wurde höflich Maß genommen, die körperlichen Miss- und Schiefstände werden genau vermessen und höflich ignoriert. Schneider wissen Bescheid über körperliches Ungemach. Es genügt seither, wenn ich sage: Schwarzes Leinen bitte oder Flanell für den Winter. Die Kosten sind entsprechend. Und sie werden weder von der Krankenkasse, die jetzt eine Gesundheitskasse ist, getragen, noch von jenem mir unbekannten Arzt, der die korrigierbare Fehlstellung bei meiner Geburt übersah.
Luxusprobleme, zugegeben. Auch, wenn es ohne Hosen und Schuhe nicht geht. Eitelkeit kostet eben. Man kann ja auch in Sneakers und schlabbrigen Trainingshosen durch die Zeiten wandeln. Man kann sich auch bekennen, zu seinen körperlichen Deformationen. Billiger wäre es allemal.
Schwieriger wird es schon, wenn es ums Eingemachte geht. Da die Operationstechnik sich kontinuierlich verbesserte und die verwendeten Materialien immer verträglicher wurden, empfahl man mir, allen immer wiederkehrenden Schmerzattacken und Verletzungen zum Trotz, so lange wie möglich zu warten. Ich wurde fünfzig und ich wurde sechzig - und lief immer noch mit meinen verformten Originalen durch die Welt. Wenn auch in maßgeschneiderten Hosen.
Genau genommen lief ich weniger, ich saß vielmehr. In Büros, in Redaktionssitzungen, in Theatern, Kinos und Cafés. Dreißig Jahre lang lag ich allerdings auch. Ich lag auf der Behandlungspritsche meiner Physiotherapeutin. Manchmal wöchentlich, manchmal seltener. Die Krankenkasse, die jetzt eine Gesundheitskasse ist, zahlt selbstverständlich jede Operation und jeden Tag im Krankenhaus. Sie zahlt Operateure und Krankenschwestern, sie zahlt die künstlichen Hightech-Hüftgelenke, die Infusionen, das Bett, die Verpflegung und Betreuung. Sie zahlt alles, wenn es was zu reparieren gilt. Auch mehrfach, wenn es sein muss.
Die Prophylaxe zahlt sie nicht. Oder nur teilweise, um gerecht zu sein. Pro Physiotherapiestunde refundiert die Kasse exakt achtundzwanzig Prozent. Zahlt man für fünfundvierzig Minuten, sagen wir, 80 Euro, bekommt man von der Kassa etwas mehr als 24 Euro zurück. Ich war dreißig Jahre lang in Physiotherapie. Dazu kamen Kuren und Heilbäder, selbst das Auto musste meinen eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten angepasst werden. Die Gesamtkosten dieser verfluchten, vermeidbaren Hüftgelenksdysplasie: Frage nicht, würde Wolf Haas seinen resignierten Erzähler wohl sagen lassen.
Doch Operation
Bevor ich mich dann, es war in meinem siebenundsechzigsten Jahr, auf Anraten meines geduldigen Arztes dann doch operieren ließ, zuerst die eine, dann die andere Hüfte, musste noch mein Badezimmer umgebaut werden. Der Einstieg in die Dusche war zu hoch, viel zu hoch. Das würde ich nicht schaffen, nach der Operation. Ich wäre einfach nicht reingekommen, in meine Duschkabine. Und auch nicht wieder raus.
Die Installationsfirma wies mich freundlicherweise darauf hin, dass die Stadt Wien die "Durchführung von baulichen Maßnahmen, die den Wohnbedürfnissen von behinderten bzw. bewegungseingeschränkten Menschen diene", fördere, auch den "behindertengerechten Umbau von Sanitärräumen". Ich fühlte mich erkannt und gerecht behandelt. Einmal, wenigstens.
Meine Freude war allerdings von kurzer Dauer. Beim Ausfüllen des Förderantrags musste ich feststellen, dass es für Fördermaßnahmen dieser Art eine Einkommensobergrenze gibt. Meine Pension war zu hoch. Ich hatte zu viel verdient.
Ich konnte mir mein Elend selber leisten. Immerhin!
Peter Klein, geboren 1953, war Rundfunkjournalist und von 2014 bis 2019 Leiter des ORF-Radios Österreich 1.