Europa-Experte Heinz-Jürgen Axt befürchtet die Aufsplitterung der EU.
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"Wiener Zeitung": In der Krise haben nun wieder die Mitgliedstaaten der EU, insbesondere die beiden großen Deutschland und Frankreich, das Zepter in die Hand genommen. Dabei hätte der Vertrag von Lissabon doch eigentlich das EU-Parlament stärken sollen.Heinz-Jürgen Axt: Lissabon hat tatsächlich zu einer Stärkung des EU-Parlaments geführt. Das bleibt auch bestehen. Bei der Ausgestaltung des Europäischen Auswärtigen Dienstes etwa hat das Parlament seine neuen Einflussmöglichkeiten sehr wohl zu nutzen gewusst. Richtig ist, dass bei der Suche nach Lösungen für die Schuldenkrise das Parlament an den Rand gedrängt wurde. Hier haben die Euro-Staaten in ihrer Not, auch weil nirgendwo in den EU-Verträgen ein gemeinschaftliches Prozedere vorgegeben ist, auf zwischenstaatliche Vereinbarungen zurückgegriffen. Im Ergebnis führte das zum deutsch-französischen Führungsduo, die Medien haben dafür den Namen "Merkozy" erfunden.
Wird diese Machtverschiebung weg vom EU-Parlament und der Kommission hin zu den Nationalstaaten von Dauer sein?
Das müssen wir abwarten. Es besteht die Gefahr einer Binnendifferenzierug, einer Aufsplitterung der Union, die in den EU-Verträgen nirgendwo vorgesehen ist. Darin liegt erhebliches Konfliktpotenzial für die Zukunft. Ein Beispiel: Die nun geplante Fiskalunion erfolgt auf zwischenstaatlicher Ebene; Länder, die gegen deren Regeln verstoßen, können jedoch nicht vor den Europäischen Gerichtshof zitiert werden, weil dieser dafür gar nicht zuständig ist. Es gibt also keine Gerichtsbarkeit, der Fiskalunion könnte dadurch der Boden entzogen werden. Grundsätzlich würde ich jedoch angesichts der momentanen Außenseiterrolle Großbritanniens für weniger Emotionen und mehr nüchterne Analyse plädieren. Auch in London werden früher oder später die Vorteile der Union wieder in einem helleren Licht erstrahlen; und das Gleiche gilt für die Kontinentaleuropäer und deren Blick auf London.
Was bedeutet diese Entwicklung für das Ziel einer weiteren Demokratisierung der EU?
Aus meiner Sicht ist die Demokratisierung durch Lissabon relativ befriedigend gelöst, viel gefährdeter ist die Supranationalität der Gemeinschaft. So wurde ja nicht nur das Parlament, sondern auch die Kommission in den Hintergrund gedrängt. Die ist jedoch, als Hüterin der Europäischen Verträge, für die Wahrung der Gemeinschaftsinteressen verantwortlich. Dazu haben zwar sicher auch taktische Fehler etwa von Kommissionschef Barroso beigetragen, aber in Summer erachte ich diese Entwicklung für wirklich bedenklich.
Wird es Martin Schulz gelingen, den Machtverlust des EU-Parlaments zu verhindern? Bisher hat dieser ja vor allem als scharfzüngiger Redner und Kritiker brilliert.
Schulz sieht sich jetzt einer völlig anderen, ungleich komplizierteren Situation gegenüber: Er muss als Parlamentspräsident die Interessen der Schuldner- und jene der Geberländer unter einen Hut bringen. Mit Polarisierung, wie er dies im Konflikt mit Silvio Berlusconi getan hat, wird das nicht funktionieren. Stattdessen muss er die gemeinschaftliche Rolle des Parlaments hervorheben. Schulz darf nicht länger den Provokateur, sondern muss den Moderator spielen - und gleichzeitig gegenüber Kommission und Staaten Stoppschilder aufstellen, um etwa Beschlüsse zur Fiskalunion transparenter und durch die Einbeziehung des Parlaments demokratischer zu gestalten.
Wird ihm dieser Rollenwandel gelingen?
Ich bin bedingt pessimistisch, nicht vorrangig wegen der Person, sondern wegen der enormen Größe der Herausforderung, die auf ihn wartet.
In welche Richtung wird sich die EU in den kommenden fünf, zehn Jahren entwickeln?
Die Binnendifferenzierung wird wohl leider weiter fortschreiten, dafür werden allein schon die unterschiedlichen Interessen der Staaten sorgen. Für Länder wie Großbritannien, Dänemark, Tschechien, aber auch Schweden und andere, steht der gemeinsame Markt im Vordergrund; andere wiederum wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande oder auch Österreich streben eine tiefer gehende Integration an. Dieser Widerspruch wird sich nicht so schnell auflösen.
Welche Folgen wird diese Entwicklung auf das Institutionengefüge der Union haben?
Wir müssen eine Form finden, die diese unterschiedlichen Interessen auffängt und gleichzeitig verhindert, dass die Union zu einem "Europa à la carte" verkommt. Wenn das gelingen soll, muss dem EU-Parlament eine zentrale Rolle zukommen, um alle Mitgliedstaaten zusammenzuhalten. Das wird jedoch nur funktionieren, wenn wir zurück zu Monnet, zurück zur Gemeinschaftsmethode finden. Allerdings befürchte ich, dass der Zeitgeist dies nicht zulassen wird. Die Zeichen stehen auf eine stärkere Differenzierung nach innen.
Zur Person
Heinz-Jürgen Axt
ist Professor für Europäische Integration und Europapolitik an der Universität Duisburg-Essen.
"Wir müssen verhindern, dass die Union zu einem Europa à la carte verkommt."