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"Ich bin ein Theatermann"

Von Markus Vorzellner

Reflexionen

Vor 200 Jahren wurde Giuseppe Verdi geboren, dessen künstlerisches Werk nicht nur musikalisch von Bedeutung ist. Er hatte ein geniales Gespür für dramatische Wirkungen und war ein engagierter Beobachter seiner Zeit.


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Im Mailand des 19. Jahrhunderts gilt der berühmte Salotto Maffei als Intellektuellen-Treffpunkt, an welchem bevorzugt die Idee des Risorgimento - der "Wiedervereinigung" Italiens - erörtert wird. Aus einem Brief eines der Gäste an die Gastgeberin des Salons spricht das hohe Niveau der diskutierten Materie: Clara Maffei gegenüber bekennt Giuseppe Verdi 1876, woraus sein persönlicher Zugang zum Theater beruht: "Die Wirklichkeit nachzubilden ("copiare il vero") mag gut sein, sie zu erfinden ist besser".

Will man Verdis Schaffen und Handeln in größerem Umfang begreifen, so kommt man um die Beschäftigung mit der Vielzahl jener künstlerischen, politischen und sozialen Wirklichkeiten nicht herum, in die der Sohn eines Bauern aus Le Roncole hineingeboren wurde. Das Dorf, im damaligen Herzogtum Parma gelegen, war zu dieser Zeit noch ein Teil des unter Napoleon I. geschaffenen Departments Taro, wurde aber ein Jahr später Napoleons zweiter Frau, Marie-Louise von Österreich, übergeben. Überspitzt kann man daher von Verdi als einem gebürtigen Franzosen sprechen.

Das benachbarte Mailand, wo Verdi ab 1832 Privatstunden bei Vincenzo Lavigna nahm, stand zwar bis 1815 ebenfalls unter französischer Herrschaft, wurde jedoch im Rahmen des Wiener Kongresses dem "Kaiserthum Österreich" zuerkannt, wodurch der Reisepass für Verdi zu einem wesentlichen Bestandteil des Musikunterrichts wurde. Wohl auch aus diesem Grund ist Verdis frühe Begeisterung für eine Vereinigung aller Länder der Apennin-Halbinsel verständlich.

"Musik der Kanonen"

Am 21. April 1848, kurz nach jenen Cinque giornate, die das zeitweilige Ende der österreichischen Herrschaft in der Lombardei bedeutet hatten, schreibt der damals bereits angesehene Komponist an seinen Librettisten Francesco Maria Piave: "Ehre sei Italien, das in diesem Augenblick wahrhaft groß ist. Du sprichst mir von Musik! Was ist in Dich gefahren? Du glaubst, dass ich mich jetzt mit Noten, mit Tönen beschäftigen will? Es gibt, es darf nur eine Musik geben, die den Ohren der Italiener von 1848 gefällt: Die Musik der Kanonen!"

Verdi begegnet dem Aufeinandertreffen der realpolitischen Gegebenheiten in der Folge aber sehr wohl mit seiner Theaterarbeit, wo er unterschiedliche Wirklichkeits-Ebenen miteinander konfrontieren und so die Musik quasi aus dem Geist des Theaters erschaffen kann. Noch als Grandseigneur der italienischen Oper bezieht er in den 1890er-Jahren diesbezüglich eine klare Position, wenn er im Rahmen einer Ehrung sagt: "Nein, lassen Sie den Komponisten beiseite, ich bin ein Theatermann!"

Doch Theater kann sich in dieser Zeit nicht ausschließlich auf die ihm inhärenten Wirklichkeits-Ebenen beschränken; seine Autoren sind verpflichtet, ihre Bühnenwerke den Zensurbehörden zur Kontrolle zu übergeben. Den Vorgaben dieser Institution sind zahlreiche Änderungen ursprünglicher Konzeptionen geschuldet, so etwa wenn in "Un ballo di maschera" das Geschehen vom Stockholm des Jahres 1792, dem historischen Schauplatz des Königsmordes an Gustav III., in das für das Europa dieser Zeit völlig geschichtslose Boston verlegt wird und der König zum Gouverneur Riccardo avanciert. Diese Änderungen konnte Verdi akzeptieren, war doch die Thematisierung eines Königsmordes seit dem missglückten Attentat auf Napoleon III. in Paris im Jänner 1858 ein heikles Unterfangen. Bei der Gestaltung seines "Rigoletto" jedoch bestand Verdi auf der Darstellung des körperlich Missgebildeten, um dessen soziale Situation und dessen Persönlichkeitsstruktur ausarbeiten zu können.

Eine andere Wirklichkeits-Ebene steht zwar dem Kompositionsprozess wesentlich näher, bietet aber ebenfalls erhebliche Reibeflächen: die des zeitgenössischen Opernschaffens mit seinen oftmals überkommenen Konventionen. Aus profunder Kenntnis der im Umbruch befindlichen Musiktheaterszene heraus tritt Verdi mit der Uraufführung seines Erstlings "Oberto" an der Mailänder Scala 1839 in ebendiese Tradition ein. In den ersten Jahren wurde der Komponist am Schaffen Gioacchino Rossinis, Gaetano Donizettis oder Vincenzo Bellinis gemessen, deren Opern bis in die 1840er Jahre an den wichtigsten europäischen Opernhäusern gespielt wurden.

Es ist darum auch nicht ganz unverständlich, wenn die Musik eines noch lange vor seiner Meisterschaft Stehenden 1846 vom Wiener Kritiker Alfred Julius Becher als "dürre Heidefläche" bezeichnet wird. Verdi reagiert seinerseits kritisch auf die italienische Opernpraxis. In einem Brief mischt sich aber unter die Vorwürfe eine interessante Utopie: "Wenn es in den Opern keine Cavatinen, keine Duette, keine Terzette, keine Chöre, keine Finali etc. etc. gäbe und wenn die ganze Oper nur eine einzige Nummer wäre, dann würde ich das vernünftiger und richtiger finden", so Verdi 1851. Nicht zufällig wird man dabei an den von Verdi höflich respektierten Konkurrenten Richard Wagner denken, der sich jedoch nicht mit brieflichen Mitteilungen begnügte, sondern zu derartigen Themen umfangreiche Traktate verfasste - sehr zur Freude mancher übereifrig-kritischer Urenkel.

Trotz des Erfolgs von "Nabucco" von 1842 (mit dem darin enthaltenen Gefangenenchor "Va pensiero") bezeichnet Verdi die Zeit bis 1851 als seine "Galeerenjahre". Dann aber gelangt sein "Rigoletto" am Teatro La Fenice in Venedig zur Uraufführung. Bereits 1843/44 hatte Verdi Victor Hugos "Hernani" in Francesco Maria Piaves Bearbeitung vertont. Der französische Dichter eröffnet ihm neue dramaturgische Möglichkeiten, sodass es nicht verwundert, wenn "Ernani" und "Rigoletto" - eine Bearbeitung von Hugos "Le roi s’amuse" - Parallelen aufweisen.

Unerhörte Wirkungen

Im "Rigoletto" modifiziert Verdi obendrein das konventionelle Arien-Modell. Der Begegnung mit dem Berufsmörder Sparafucile etwa folgt Rigolettos Betrachtung, dass "wir alle gleich" seien, in Form eines musikalischen Monologs, der, abseits überkommener Schemata, umso stärkere Wirkung hervorruft.

Ebenso zäumt Verdi bei Rigolettos Ausbruch gegen des Herzogs Hofschranzen im zweiten Akt gleichsam das Pferd vom Schwanz auf, wenn er die Arie mit einem erregten Ausbruch beginnen lässt, auf dass der Narr im Folgenden die Sinnlosigkeit seines Tobens erfasse: Rigoletto fleht den Grafen Marullo in deutlich reduziertem Tempo an, ihm den Aufenthaltsort seiner Tochter zu nennen. Somit kehrt Verdi den konventionellen Arien-Aufbau langsam-schnell ins Gegenteil.

Innerhalb der europäischen Musikwelt erfuhr Verdi nach der Premiere des "Rigoletto" eine zunehmende Akzeptanz. So blieb auch der Kompositionsauftrag der Pariser Oper nicht aus, der im Frühjahr 1852, also noch vor den Premieren von "Il Trovatore" und "La Traviata", an Verdi erging.

In Paris hatte sich der Komponist verstärkt mit einer Wirklichkeits-Ebene auseinanderzusetzen, die dem schöpferischen Prozess eher abträglich schien: Der berühmteste Librettist Frankreichs, Eugène Scribe, hatte sich keine sonderliche Mühe gegeben: Zum einen ließ er schreiben, zum anderen waren Versatzstücke aus bereits aufgeführten Opern verwendet worden, was den peniblen Italiener verärgerte.

Trotzdem ist hier, nicht zuletzt aufgrund langjähriger Beschäftigung Verdis mit der französischen Oper, ein Werk von erstaunlicher Originalität entstanden, "Les vêpres siciliennes", in welchem die Befreiung Siziliens von den Franzosen 1282 thematisiert wird. Zwölf Jahre nach dieser Premiere wird eine andere Freiheitsoper Verdis, "Don Carlo", ebenfalls in Paris aufgeführt werden.

Mit zwei großen Erfolgen am Rande Europas beschließt Verdi seine mittlere Schaffensperiode. 1862 findet in St. Petersburg die Premiere von "La forza del destino" statt, und 1871 hebt sich im Opernhaus von Kairo der Vorhang für "Aida". Beide Male ist der Komponist bei der Premiere nicht anwesend; Ägypten meidet er, weil, wie er an seinen Freund Giuseppe Piroli schreibt, er "fürchten müsste, dort mumifiziert zu werden".

Nach einer Theater-Pause von dreizehn Jahren, in der seine "Messa da Requiem" entsteht, komponiert Verdi die zwei Alterswerke, die seine bis dahin entwickelte Tonsprache deutlich übersteigen: "Otello" und "Falstaff". Die nachsingbare Melodie wird darin zur isolierten Ausnahme.

Den Anstoß zu dieser letzten kompositorischen Anstrengung gab Verdis letzter Librettist, der selbst als Komponist hervorgetreten war: Arrigo Boito. Diese Zusammenarbeit wurde oft als Optimum musiktheatralischer Symbiose bezeichnet, vergleichbar nur jener von Mozart und Lorenzo da Ponte, bzw. Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Begonnen wurde mit der Neubearbeitung eines bereits existierenden Werkes, "Simone Boccanegra", bevor jener Autor in den Mittelpunkt trat, den Verdi zeitlebens verehrt hatte: William Shakespeare. Nach anfänglichem Widerwillen entschließt sich Verdi 1884 zur Komposition, um im November 1886 ausrufen zu können: "Otello ist vollständig beendet!! Wirklich beendet!!! Endlich!!!"

Oper und Wirklichkeit

Dem bejubelten "Otello" folgt Boitos Aufruf an Verdi, ein weiteres Werk Shakespeares zu bearbeiten, wobei er an "The Merry wives of Windsor" denke. Verdi antwortet ihm am 7. Juli 1889: "Habt ihr beim Entwurf des Falstaff an meine Jahre gedacht?", um drei Tage später in einem weiteren Brief zu vermelden: "Machen wir also Falstaff!"

Vermittelt diese Komödie am Ende von Verdis musikdramatischem Schaffen, dass alles auf der Welt Spiel sei ("tutto nel mondo è burla"), so bietet dessen Sichtweise der ihn umgebenden politischen Situation eine andere Perspektive. Hier scheinen Wirklichkeits-Ebenen auch über Jahrzehnte hinweg miteinander zu kollidieren, bedenkt man die frühe Begeisterung Verdis für die Einigung Italiens. In einem Schreiben an Giuseppe Piroli schreibt der gealterte Meister am 10. Februar 1889, noch vor dem Falstaff-Plan: "Auf dem Land sehe ich Menschen, die vor ein paar Jahren Grundbesitzer waren und heute zu Bauern, Tagelöhnern und Auswanderern herabgesunken sind.
(. . .) Ich glaube recht zu haben, wenn ich sage, dass ich zutiefst überzeugt bin, dass wir am Ende dieses Weges den totalen Untergang finden werden. Also gut, wenn es so ist, bereiten wir uns auf alle Unruhen vor, die eine Stadt nach der anderen, dann die Kleinstädte, dann das Land ergreifen werden."

Dass Verdi mit seinen wegweisenden Opern auch heute noch präsent ist, belegen deren weltweit hohe Aufführungszahlen. Sollten seine Beobachtungen längerfristiger Wirkungen von politischen Mega-Vereinigungen ihrerseits eine traurige Bestätigung für seine "Nachhaltigkeit" enthalten?

Markus Vorzellner lebt als Pianist (Schwerpunkt Kammermusik und Liedbegleitung) und Publizist in Wien.
Website Markus Vorzellner