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Ich bin ein wirklich guter Mensch

Von Engelbert Washietl

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Der Autor ist Vorsitzender der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor Wirtschaftsblatt, Presse, und Salzburger Nachrichten.

Mein soziales Gewissen habe ich längst ausgelagert. Der Sozialstaat nimmt mit alles ab: die Auswahl der Bedürftigen, die Distribution meiner Wohltaten und vor allem Geld.


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Manchmal vergehen Jahrzehnte, bis man die Mechanik des Alltäglichen begreift. Zufällig unter der Regierung Gusenbauer-Molterer ist bei mir der Groschen gefallen. Ich verdanke dem Sozialstaat, dass ich ein guter Mensch bin.

Er verwaltet meinen sozialen Gerechtigkeitssinn und koppelt ihn von Gefühlsschwankungen ab. So war im März gewiss auch ich indirekt daran beteiligt, dass der erste Schwerarbeiter - ein Spengler aus der Steiermark - mit 60 Jahren ohne Abzüge in den Ruhestand treten konnte. Privat hätte ich ihn glatt übersehen. Ich war eines Herzens mit dem Nationalrat, als dieser am vergangenen Mittwoch allen Ungeduldigen den steinigen Weg in die Frühpension ebnete und die von der vorhergehenden Regierung erfundenen Bußgelder halbierte. Wenn der Differenzbetrag zu begleichen ist, werde ich auf der anonymisierten Liste der Spender sein.

Tritt Hilfsbedürftigkeit auf, dann füllt mein soziales Gewissen wie der Montageschaum aus der Spraydose jeden Spalt und fixiert Rechtsansprüche. Ich werde im Herbst die Erhöhung der Studienbeihilfe von durchschnittlich 275 auf 308 Euro monatlich mittragen. Und ich sitze zumindest geistig und als Sympathisant am Verhandlungstisch, wenn Bund, Länder und Gemeinden die bedarfsorientierte Mindestsicherung aushandeln.

Das Großartige an dem System ist das moralische Niveau im Verhältnis zwischen Gebern und Nehmern. Sie müssen einander nie persönlich begegnen, Peinlichkeiten bleiben ihnen erspart. Bei der linkischen Art, wie private Wohltaten außerhalb der staatlichen Sozialpolitik gewährt werden, wirken Spender ja oft hochnäsig oder sogar aggressiv. In der Sozialpolitik braucht man niemandem in die Augen schauen. Es ist auch kein Fall bekannt, dass ein Empfänger sich erkundigt hätte, woher das Geld kommt.

Es ist kleinlich, darüber zu diskutieren, ob jemand Kindergeld bezogen hat, ohne dass es ihm zustand. Das wird schon nicht vorgekommen sein. Außerdem war das ja schon im Jahr 2002. Und auch nur in 590 bekannt gewordenen Fällen und später nicht mehr, weil keine Stichproben mehr gemacht wurden. Analog dazu freue ich mich über jeden Cent für alleinerziehende Mütter und brauche nicht nachschauen, ob die Empfängerinnen im Einzelfall allein erziehen oder bloß woanders gemeldet sind als der Vater.

Demnächst wird die Vermögenssteuer kommen. Journalisten können zwar bei weitem nicht so viel Vermögen anhäufen wie die politischen Treuhänder meines sozialen Gewissens, aber irgend etwas werden sie schon finden. Es geht meist ruckzuck, nicht so altmodisch wie bei den Banken, die Abbuchungen im Kontoauszug vermerken. In der Sozialpolitik ist das Geld schon weg, ehe es da war. 47 Milliarden Euro betrugen die monetären Sozialleistungen im vorigen Jahr, und mein Geld war Teil davon. Natürlich bekomme auch ich etwas und möchte gut betreut werden, wenn ich ins Krankenhaus muss, aber mein staatlich gelenktes Sozialgewissen geht darüber hinaus. Jede Bezirkshauptstadt soll ein Spital haben. Jeder Landesklinik ihren Positronen-Emissions-Tomographen!

Ein befreundeter Wählerstromanalytiker hat mich belehrt, dass meine bei der Nationalratswahl abgegebene Stimme "dank ihres repräsentativen Impacts" beigetragen habe, genau die Koalitionsregierung zu bekommen, die wir haben. Ich bin stolz, dass ich repräsentativ bin. Ich werde die Regierung, die uns kurz nach ihrem Antritt prozyklisch zur Konjunktur auch ein Budgetdefizit gönnte, beim nächsten Mal wieder wählen.