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"Ich bin kein Ordnungsfanatiker"

Von Verena Mayer

Reflexionen

Zuerst hat der Schweizer Ursus Wehrli Kunstwerke auseinandergenommen und nach Farben und Größe sortiert. Mittlerweile hat er das Aufräumen selbst zu einer eigenen Kunst weiterentwickelt.


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Aufgeräumter Typ: Ursus Wehrli.
© © Geri Born

Aufräumen nervt eigentlich immer. Und das Schlimmste daran: Es bleibt nie aufgeräumt. Daher wundert es einen, dass das Aufräumen erst jetzt von der Kunst entdeckt wurde. Wo doch alles da ist, wovon die Kunst lebt: der Frust am Unvollendeten genauso wie die Möglichkeit der Perfektion. Dazu der Irrsinn, immer wieder nach Perfektion zu suchen. Genau darum geht es auf den Bildern von Ursus Wehrli.

Das sieht dann so aus: Links ein Teller Buchstabensuppe. Rechts derselbe Teller, nur dass sich die Buchstaben jetzt in Reihen von A, C, E oder Hs befinden, und unten dran noch eine Reihe mit den Karottenstückchen aus der Suppe steht. Oder der Schulhof: Links Kinder, die herumrennen, Bälle werfen, Himmel und Hölle spielen. Rechts liegen sie dann alle, nach Farben geordnet, auf dem Boden. Gut ist auch das Universum: Links der Sternenhimmel, rechts die Sterne nach Größe und Helligkeit in senkrechten Reihen.

"Die Kunst, aufzuräumen" hat Wehrli seinen Fotoband genannt. Wobei Kunst das Erste war, was er gemacht beziehungsweise aufgeräumt hat. Er hat Bilder berühmter Maler genommen, die durcheinandergewürfelten Formen von Kandinsky oder Matisse, die bunten Flächen von Keith Haring oder die zarten Striche von Miró. Die hat er dann auseinandergepuzzelt und sortiert - nach Größe und Farben, in Reihen und in Häufchen. "Kunst aufräumen" hieß das Buch aus dem Jahr 2002, das sich 500.000 Mal verkauft hat und Wehrli weltweit bekannt gemacht hat, wegen seinem Humor und der Chuzpe.

Einen Aufräumkünstler will man natürlich bei sich zu Hause besuchen. Aber nur unter einer Bedingung, sagt Wehrli. Dass er nichts aufräumen müsse. Er bekomme ohnehin schon die seltsamsten Angebote, Einladungen zu Putzfachtagungen etwa. Ursus Wehrli wohnt in einer der unordentlicheren Ecken von Zürich, im Kreis 5, dort, wo die Stadt laut und industriell ist.

Ursus Wehrli, der mit Frau und Kind eine Maisonette bewohnt, bittet in sein Arbeitszimmer. Das ist auf den ersten Blick bis unter die Decke vollgestopft, mit Büchern, CDs, Stiften, Papierstapeln, Kinderzeichnungen. Doch in sich ist alles penibel geordnet. Die vielen gelben Post-its über dem Schreibtisch sind in geraden Reihen aufgeklebt, die Plastikhüllen auf der Ablage nach Farben sortiert, die Schlüssel nach der Größe. Auf einem Haken hängen Krawatten übereinander, auf einem anderen die Bitte-nicht-stören-Schilder aus diversen Hotels.

Cover von Wehrlis jüngstem Band aus dem Verlag Kein & Aber.

Für Ursus Wehrli der Idealzustand: "Chaotisch, aber geordnet." So wie in der Natur, in der jedes Durcheinander einen Sinn habe. Gut zu beobachten ist das auf Wehrlis Bild, das ein aufgeräumtes Gänseblümchen zeigt. Die Ästhetik ist dahin, sobald die Blütenblätter in einer Reihe liegen. Das sei auch der Grundfehler einer künstlich hergestellten Ordnung, sagt Wehrli. Dass sie gegen das Leben sei.

Wehrli, Jahrgang 1969, sitzt mit gekreuzten Beinen auf einem Sessel. Er trägt Jeans und T-Shirt, nicht den dunklen Anzug, den er sonst anhat. Wenn er als Teil des Komikerduos "Ursus & Nadeschkin" auftritt, was er hauptberuflich tut. Oder eben bei seinen Aufräumaktionen. Wenn er, ein Megaphon in der Hand wie ein Regisseur auf einem Filmset, etwa ein Freibad in Ordnung bringt, samt Schwimmern, Liegen und Handtüchern. Die hundert Freiwilligen hat er über eine Anzeige in der Zeitung gefunden.

Wie er auf die Idee mit dem Aufräumen kam, kann Wehrli nicht mehr sagen. Sehr wohl aber, welche Aufräumideen er noch hat. Da wären, fein säuberlich in einer Excel-Tabelle aufgelistet: ein Tattoo, Wolken oder Stonehenge. Ein Ameisenhaufen, der allerdings eine reine Photoshop-Arbeit wäre, und das will Wehrli nicht. Er macht alles von Hand, ob er Buchstabensuppe oder asiatische Schriftzeichen sortiert, ob er Hühner in den Stall räumt oder einen Tannenzweig in sämtliche Nadeln zerlegt. Er sei kein Ordnungsfanatiker, sagt Wehrli. Aber er habe schon einen bestimmten Blick. Im Supermarkt etwa. Die Sachen in den Einkaufwägen an der Kasse stellt er sich sofort nach Größe oder Farbe geordnet vor.

Angefangen hat alles, als er bei einer Freundin zu Gast war. Da saß er vor ihrem Bücherregal und begann plötzlich, es nach Farben zu sortieren. Für ein Motiv hat das nicht gereicht, aber für eine Erkenntnis: Dass jede Ordnung ein Eingriff ist. Der zwanghafte Versuch, Dinge zu kontrollieren, die sich jeder Kontrolle entziehen. So nimmt Wehrli mit seinen Aufräumbildern auch die "Simplify your life"-Bewegung aufs Korn, all die Ratgeber, die einem vorgaukeln, man hätte sein Leben im Griff, sobald man den Keller entrümpelt, den Schrank sortiert und eine To-Do-Liste anfertigt.

Aber reden wir jetzt einmal konkret übers Aufräumen:

CDs?
"Alphabetisch, und die Frauen extra."

Wegschmeißen oder behalten?
"Behalten. Und nach zwei Jahren wegschmeißen."

Socken zusammengefaltet oder als Knäuel?
"Knäuel."

Kabel?
"Auf jeden Fall aufrollen."

Wie geht man mit Erinnerungen um? Wehrli zieht ein Buch aus einem Regal. Von jedem Jahr hat er einen Kalender und darin Zettel, Tickets, Zeichnungen. Dabei kommt auch Wehrlis Vater ins Spiel, ein Forstingenieur, der, seit er in Pension ist, Dinge sortiert: alte Ordner, Fotos von Reisen und Touren. Den vier Kindern schickt er dann Listen von allen Orten, an denen sie Urlaub gemacht haben.

Das Aufräumen scheint bei den Wehrlis also in der Familie zu liegen. Beziehungsweise in dem Land, in dem sie leben. Wehrli kommt nämlich aus der Schweiz, und dort ist die Ordnung so etwas wie die vierte Macht im Staat. Das bekam Wehrli ausgerechnet dann zu spüren, als er wieder einmal aufräumte. Als er auf einem Parkplatz in Zürich Autos umstellte, oben die dunklen, unten rechts die roten, gab es prompt eine Lärmklage.

Wehrli muss los, und begleitet einen hinaus, wo einem die seltsamsten Dinge durch den Kopf gehen. Warum stehen Fahrräder in der Einfahrt eigentlich durcheinander? Oder die Punkte auf der Bluse der Frau, die einem entgegenkommt. Die könnte man doch auch in Reihen anordnen! Nur eines ist einem plötzlich klar. Warum es für einen so anregenden Gesprächspartner, wie Ursus Wehrli einer ist, im Deutschen ein ganz gutes Wort gibt: aufgeräumt.