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"Ich bin nicht der Herrgott meiner Figuren"

Von Irene Prugger

Reflexionen

Michael Köhlmeier über Tricks und Verführungskunst beim Geschichtenerzählen.


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"Wiener Zeitung": Herr Köhlmeier, beginnen wir mit einem Zitat aus Ihrem neuen Roman, "Die Abenteuer des Joel Spazierer": "dass es bei der Beantwortung einer Frage nicht darauf ankommt, die Wahrheit zu sagen, als viel mehr, den Frager in Erstaunen zu versetzen, indem man genau das sagt, was er hören will." Gilt das auch für Interviews?Michael Köhlmeier: Ja, und genauso machen wir das jetzt. Wenn ich Antworten gebe, die Sie erwarten, stellt sich Vertrautheit ein, Sie werden sich denken, wir verstehen uns prächtig, das gibt uns beiden ein gutes Gefühl und Sie sind mir gewogen.

Das klingt nach Manipulation, wie Sie auch Ihr Romanheld Joel Spazierer sehr gut beherrscht. Ja, manipulieren und hinters Licht führen kann er außerordentlich gut.

Aber es geht doch um Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Sogar in der Fiktion, beim Geschichtenerzählen und Geschichtenerfinden geht es um Wahrhaftigkeit.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind Fürze der Literaturkritik. Vielleicht sind es auch Joker, die Schriftsteller gern verwenden, um ihr Werk zu veredeln. Die Kunst hat ja oft Berührungsängste, was das Triviale betrifft. Aber alle große Kunst leitet sich von niederer Kunst ab. Bevor die Romane groß wurden, gab es Trivialromane, bevor das Theater groß wurde, war es der Schausteller-Karren, der herumgezogen ist, bevor die Musik groß wurde, gab es die Bänkelsänger.

Dieser Geruch der Marktschreierei hängt der Kunst noch immer an, auch der Literatur. Sie will Aufmerksamkeit. Sie will gelesen werden. Sie braucht raffinierte Tricks und Verführungskunst. Wahrheit braucht sie nicht, oder nur im metaphorischen Sinn. Das wahrste und wahrhaftigste Buch wäre ja sonst das Telefonbuch.

Worin liegt die Verführungskunst beim Geschichtenerzählen?

Vor allem in einer guten Dramaturgie. Am Anfang steht ein Versprechen, das ich als Autor einlösen muss. Decke ich es zu früh auf, verpufft die Chance, weiter die Spannung zu halten. Lasse ich mir damit zu lange Zeit, werden die Leser ungeduldig, sie denken: "Danke, es reicht, behalte dein Geheimnis für dich!" Ein guter Trick ist es auch, sich zuerst als schlechter Erzähler auszugeben: "Ich möchte euch jetzt etwas erzählen, das werdet ihr nicht glauben. Wie hieß die Straße doch gleich, in der sich das zugetragen hat? Lasst mich kurz nachdenken . . ." Dieses Zögern, dieses Vorantasten, verschafft mir einen Kredit an Glaubwürdigkeit.

Dieser Kredit kann aber nur eingelöst werden, wenn man genau weiß, worüber man schreibt, und nicht einfach nur hochstapelt.

Natürlich greife ich beim Schreiben auf meine Erfahrungen zurück. Wie aus einem Steinbruch hole ich mir aus meinem Leben die Steine, aus denen ich meine Geschichten baue. Aber identisch ist keine Figur mit mir, nicht einmal mein literarisches Alter Ego Sebastian Lukasser, der auch in meinem neuen Roman wieder eine Rolle spielt, und der mir sehr ans Herz gewachsen ist, weil ich ihm alles, was ich erlebt habe, in die Schuhe schieben kann.

Wenn es bei der Literatur also nicht um Wahrheit geht, dann zumindest um Authentizität?

John Lee Hooker wurde gefragt, wie der echte Blues entsteht. Er gab zur Antwort: "Alle glauben, zumindest einer aus deiner Familie muss ein Sklave gewesen sein, du musst in einem Baumwollfeld geschuftet haben oder die Maschinenhallen von Detroit kennen. In Wirklichkeit brauchst du nur eine Sache, nämlich Talent!"

Ihr neuer Romanheld Joel Spazierer besitzt literarisches Talent. Ein sehr galanter Ich-Erzähler. Ob man ihm auch vertraut? Immerhin ist er ein Soziopath.

Soziopath - mit diesem Wort erlischt jede Faszination, das ist so ein Sammelbegriff wie Laub, der nichts über die leuchtenden Farben der Blätter aussagt. Was mich an Spazierer berührt, ist vor allem seine Unschuld. Mich fasziniert der Gedanke - der juristisch natürlich völlig unhaltbar ist -, dass Unschuld sich nicht durch eine nicht begangene Tat definiert, sondern durch eine innere Haltung. Er stiehlt, betrügt, tötet mehrfach, aber ohne schlechtes Gewissen, denn er ist in seiner Seele ein Kind geblieben oder, wie er selbst einmal sagt, "ein Tier in Menschenhaut". Jedenfalls besitzt er großen Charme und bleibt trotz aller Missetaten sympathisch. Wenn ein Löwe einen Menschen frisst, kann man dem Löwen keine Schuld zusprechen.

Haben Sie bei Shakespeare Psychologie studiert?

Ja, das habe ich. Das haben wir alle. Shakespeare hat uns die Falltüre geöffnet, durch die wir in die unteren Stockwerke des Menschseins gelangen und er war mutig genug, mit seiner Fackel auch die hintersten verborgenen Räume und Winkel auszuleuchten. Wenn zwei psychologische Meinungen gegeneinanderstehen und die eine Meinung ist von Shakespeare, ist immer er es, der Recht hat.

Was steht Ihnen näher, die Tragödie oder die Komödie?

Ich bewundere die Tragikomödie. Beides gehört zusammen. Woody Allen behauptet, Komik sei Tragödie plus Zeit. Das heißt, nach langer Zeit schälen sich auch die komischen Seiten des Schrecklichen heraus. Außerdem besteht beim Schreiben die große Gefahr, dass die Identifikation mit den Figuren zu stark wird. Ohne ironische Distanz wird der Text oft kitschig undschlecht. Trotzdem habe ich nicht immer alles unter Kontrolle. Ich bin nicht der Herrgott meiner Figuren. Ich weiß nicht alles über sie. Eine Figur kann den Schriftsteller amüsieren, sie kann ihm aber auch unheimlich werden.Meine Protagonisten sehen sich oft anders als ich sie sehe. Joel Spazierer zum Beispiel will kein Schelm sein, aber diesbezüglich bin ich ihm in den Rücken gefallen.

Müssen Schriftsteller eine große Fähigkeit zur Empathie besitzen?

Es gibt viele Schriftsteller, die selbstbezogen, langweilig oder in sich selbst zurückgezogen sind und sich nicht um ihre Mitmenschen kümmern. Aber sie schreiben trotzdem gut, weil sie ihre eigenen Untiefen ausloten. Wenn mir jemand eine Geschichte von einem Menschen erzählt, der sich als Protagonist für eine Erzählung eignet, muss ich mich fragen, gibt es diese Person auch in mir? Meistens finde ich sie. In jedem von uns steckt ja ein reiches Innenleben mit unzähligen Erfahrungen. Das Schreiben ist in diesem Sinn ein Prozess der Selbsterkenntnis, der großes Vergnügen bereiten kann. Ich würde jedenfalls keinem Schriftsteller raten, eine Therapie zu machen.

Aber therapeutisches Schreiben ist verpönt!

Was spricht dagegen, wenn dabei zum Beispiel ein Roman wie "Schuld und Sühne" herauskommt? Und schlechte Qualität kann auch das Ergebnis von nichttherapeutischem Schreiben sein. Es kommt auch gar nicht so sehr auf die Geschichte an, sondern wie sie erzählt wird. Ich hatte zwei Freunde. Der eine erzählte nie etwas von sich und nur durch Zufall kam ich dahinter, dass er die ganze Welt bereist und die abenteuerlichsten Situationen erlebt hatte. Ich wollte mehr davon wissen. Aber als er darüber berichtete, musste ich gähnen. Der zweite Freund brauchte nur von einer Fahrt mit dem Moped zwischen Bludenz und Dornbirn zu erzählen, und ich war hingerissen.

Sind Sie auch manchmal von Ihrer eigenen Erzählkunst hingerissen?

Es gibt Momente, da lehne ich mich nach dem Schreiben zufrieden zurück und denke, das ist jetzt eine wunderbare Komposi- tion, genial wie eine Fuge von Bach. Aber dann leuchtet sofort die Warnlampe im Kopf auf, meine kleine Spielverderberin, und rät mir, alles am nächsten Tag noch einmal durchzulesen. Tatsächlich relativiert sich meistens alles. Zum Glück funktioniert das auch umgekehrt: Wenn ich denke, der Text sei unbrauchbar, stellt sich oft ein paar Tage später heraus, dass ich mit dem Geschriebenen doch ganz zufrieden sein kann. Ich weiß mittlerweile, dass ich meinen eigenen Stimmungen nicht immer trauen kann.

Sind Sie empfindlich gegenüber Kritik?

Ja, durchaus. In manchen Fällen schmerzt sie besonders: wenn ich als Person angegriffen werde, oder wenn Rezensenten etwas Nachteiliges behaupten und damit Recht haben. Dann ärgere ich mich über mich selbst und frage mich, warum mir das nicht selber aufgefallen ist.

Sie begnügen sich nicht nur mit Geschichten, Sie wollen auch ganze Lebensgeschichten erzählen. Geht es Ihnen darum, Zeitzeugen zu erschaffen? Geschichte und Wissen mit zu erzählen?

Ich arbeite gerne an langen Romanen, sie sind für mich ein anregendes Gedankenspiel, das bis zu sechs Jahre dauern kann. Ich habe mein Narrenkästchen und in diesem Raum zusammen mit meinen Romanfiguren bin ich unangreifbar. Das Produkt hat die Fantasie noch nicht ganz verlassen, mein inneres Maß ist bestimmend. Während dieser Zeit fühle ich mich in einer großen geistigen Geborgenheit. Was die Geschichte und das Wissen betrifft: Ich kann einen 95-jährigen Mathematiker (Anm.: im Roman "Abendland") nicht in einem ungebildeten Umfeld und losgelöst von geschichtlichen Ereignissen zeigen. Eine Trennung zwischen Story und History ist nie sinnvoll.

Was kann Ihrer Meinung nach eine fiktive Biografie zeigen, was eine reale Biografie nicht zeigen kann?

Anders herum gefragt: Was kann eine reale Biografie, was eine fiktive nicht kann? Die Antwort ist: Auch wissenschaftliche Biografien werden kunstgerecht verarbeitet und mit einer Intention erzählt, sind aber oft viel unehrlicher, weil sie behaupten, es sei nichts erfunden. Befragt man aber vier Zeugen eines Unfalls, kommt es zu vier unterschiedlichen Aussagen. Dennoch wird der sogenannten Realität mehr Bedeutung beigemessen. Würde ich behaupten, Herr Spazierer hat wirklich gelebt, hätte die Geschichte für viele Leser einen höheren Stellenwert.

Zitat "Die Zeit": "Michael Köhlmeier ist ein erzählender Kompositeur mit einem Elefantengedächtnis. Er vergisst keine Spur, manchmal vergehen 400 Seiten, bis er den Faden wieder aufnimmt." Wie behalten Sie den Überblick bei so umfangreichen Büchern wie "Abendland" oder Ihrem neuen Roman? Verirren Sie sich auch manchmal beim Schreiben?

Die Übersicht zu behalten ist leicht, ich lese das Geschriebene ja immer wieder durch. Ich habe auch keine Ängste, ein umfangreiches Buch zu beginnen. Der erzählerische Eros ist da, es gibt keine Routine, das Unterfangen ist spannend. Die Ängste und Zweifel kommen später, nach zig geschriebenen Seiten. Hält der Plot? Gelingt es mir, die Geschichte spannend zu halten? Es wäre bitter, nach 400 Seiten eingestehen zu müssen, dass man sich in eine Sackgasse geschrieben hat. Drei Jahre Arbeit umsonst.

Ist Ihnen das schon passiert?

Viel Zeit und Mühe hatte ich bereits in "Penelope" investiert, den dritten Teil meiner geplanten Odysseus-Trilogie, den ich nach "Telemach" und "Kalypso" veröffentlichen wollte. Ich konnte lange nicht zugeben, dass ich gescheitert bin. Ich fand vor mir selbst und vor anderen immer eine Ausrede, warum nichts weitergeht. Im Endeffekt blieb nichts anderes übrig, als aufzugeben.

Abgesehen von solch seltenen Irrfahrten haben Sie Ihre Bücher zu Ende gebracht und damit große Erfolge eingefahren, obwohl das Erzählen in Österreichs Literaturszene lange Zeit nicht sehr angesehen war. Mittlerweile ist Erzählen ja wieder erlaubt. Freut Sie das?

Die säuerliche hiesige Literaturkritik der 1970er Jahre hat behauptet, der Roman und die Erzählkunst seien am Ende. In Österreich gab es damals eine unsägliche Hochlobung der "Wiener Gruppe", die nichts anderes war als ein Aufguss des Dadaismus. Wenn man über den Tellerrand blickte, war das absurd, im anglikanischen Sprachraum entstanden in dieser Zeit großartige Romane. Jetzt gibt es auch wieder bei uns eine Hochblüte des Romans, die einen schon fast wieder skeptisch werden lässt. Der Roman dominiert alles. Bei der Vergabe des Deutschen Buchpreises wird stillschweigend vorausgesetzt, dass es sich um eine romanhafte Erzählung handeln muss. Kurzgeschichtenbände, Essays oder gar Lyrik werden offenbar von vornherein ausgeklammert.

Werden Sie in Ihrer Eröffnungsrede zum diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis auch kritisch zur heimischen Literaturkritik Stellung nehmen?

Ich habe mir kurz überlegt, mein Referat mit dem Titel "Betrogene Liebe" zu überschreiben, aber reden wir lieber über die Literatur als über die Literaturszene. Was letztlich bleibt, ist die Poesie.

Sie schreiben ja auch Lyrik. . . Mein Verleger Michael Krüger, selbst ein Lyriker, hat von sich aus bei mir um Gedichte angefragt. Voriges Jahr erschien mein Gedichtband "Der Liebhaber bald nach dem Frühstück". Er hat sich schlecht verkauft, was bei Lyrik zu erwarten war, aber ich schreibe trotzdem ständig Gedichte - im Zug, in der U-Bahn, beim Warten auf irgendetwas oder irgendjemanden. Das Leben eines Schriftstellers besteht ja zu einem großen Teil aus Muße. Man reist zu Lesungen, manchmal fällt ein Termin aus und man bedankt sich insgeheim für die geschenkte Stunde. Und weil das Sudoku-Rätsel schon gelöst ist, schreibt man ein Gedicht.

Machen Sie noch manchmal Musik, spielen Gitarre und singen?

Ja, aber nur für mich ganz persönlich, für ein kleines halbstündiges Glück.

Ihre Antworten klingen sehr offen und aufrichtig. Würden Sie jemandem, der etwas anderes erwartet, andere Antworten auf dieselben Fragen geben?

Nein, das würde ich nicht. Nicht, wenn er mir so aufrichtig begegnet wie Sie.

Irene Prugger, geboren 1959 in Hall, lebt als Autorin und freie Journalistin in Mils in Tirol. Sie schreibt regelmäßig Beiträge für das "extra" der "Wiener Zeitung".

Michael Köhlmeier wurde 1949 in Hard am Bodensee geboren und wuchs in Hohenems auf. Er studierte Germanistik und Politologie in Marburg sowie Mathematik und Philosophie in Gießen und Frankfurt. Seit Anfang der 1980er Jahre entstand ein umfangreiches Romanwerk. Der Autor schreibt ferner Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke, Lyrik und Novellen. Dem breiten Publikum bekannt wurde er durch Bücher, CD-Editionen sowie Rundfunk- und TV-Sendungen, in denen er die Sagen des klassischen Altertums neu erzählt. Köhlmeier ist mit der Schriftstellerin Monika Helfer verheiratet und lebt in Hohenems/Vorarlberg.

Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet: Rauriser Literaturpreis, Johann-Peter-Hebel-Preis für Literatur des Landes Baden-Württemberg, Manès-Sperber-Preis, Anton Wildgans-Preis der österreichischen Industrie, Ehrenpreis des Vorarlberger Buchhandels, Grimmelshausen-Preis, Goldenes Verdienstzeichen des Landes Wien, Bodensee-Literaturpreis, Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis.

Neueste Buch-Veröffentlichungen: "Abendland" (Roman, Hanser 2007); "Idylle mit ertrinkendem Hund" (Deuticke 2008); "Madalyn" (Roman, Hanser 2010); "Der Liebhaber bald nach dem Frühstück" (Gedichte, Hanser 2012); "Die Abenteuer des Joel Spazierer" (Roman, Hanser 2013).