Das bitterarme Haiti hat Aids erstaunlich gut in den Griff bekommen. | Karibikinsel galt einst gar als Wiege der Immunschwäche. | Port-au-Prince. (ap) Nachdem Ärzte bei der damals 20-jährigen Micheline Leon die HIV-Infektion diagnostiziert hatten, wollten ihre Eltern schon einen Sarg bestellen. 15 Jahre später sitzt die Frau in ihrem Haus im Zentrum von Haiti und schaut ihren vier Kindern zu, die draußen zwischen Bananenstauden spielen. Die drei Söhne und die Tochter kamen erst nach der Diagnose zur Welt, aber keines von ihnen trägt das Virus in sich.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Die Leute sagen, ich sei krank, aber das stimmt nicht", sagt die 35-Jährige. "Ich bin infiziert." Leons persönliche Geschichte gleicht in vielen Aspekten der HIV-Entwicklung in Haiti, einem der ärmsten Länder der Erde. Die unheimliche Krankheit trat Anfang der 1980er Jahre bei haitianischen Migranten, die vor der Diktatur in die USA geflohen waren, gehäuft auf. Damals prophezeiten Experten, Aids werde ein Drittel der Bevölkerung des Karibikstaates dahinraffen. Stattdessen blieb die Infektionsrate im einstelligen Bereich und sank dann - trotz Naturkatastrophen, politischer Wirren und sozialer Unruhen.
Derzeit sind 2,2 Prozent der Menschen zwischen 15 und 49 Jahren infiziert. Das ist zwar mehr als in Industrieländern, aber weniger als in anderen Staaten der Region wie etwa den Bahamas, Guyana oder Surinam. Im südlichen Afrika liegen die Werte bei rund fünf Prozent, in Botswana sogar bei 24 Prozent.
Medikamente sind gratis
Der Erfolg in Haiti basiert Experten zufolge vor allem auf Hilfsorganisationen, die ihre Projekte gezielt auf die speziellen Herausforderungen des Landes zugeschnitten haben. Dazu zählen die Bostoner Gruppe Partners in Health oder das Gheskio-Krankenhaus in der Hauptstadt Port-au-Prince, das als älteste Aids-Klinik der Welt gilt. "Die haitianische Aids-Gemeinschaft glaubt, dass sie allen anderen weit voraus ist, und das stimmt weitgehend", sagt Judith Timyan von der US-Behörde für Entwicklungshilfe. "Dort wird weltweit mit die beste Arbeit geleistet."
Anfangs trugen vor allem zwei Faktoren dazu bei, die Zahl der HIV-Patienten gering zu halten: die sofortige Schließung privater Blutbanken und die hohe Aids-Sterberate. Unbehandelte Infizierte sterben in Haiti acht Jahre früher als in den USA. Später verhinderten gezielte Aufklärung, die Versorgung mit Aids-Medikamenten und der verstärkte Gebrauch von Kondomen, dass sich die Krankheit ausbreitete. Die Rate der infizierten Schwangeren auf Haiti halbierte sich von 1993 bis 2003 von 6,2 auf 3,1 Prozent.
Zu Beginn der Aids-Krise wurde Haiti hastig als Hauptstätte oder sogar als Wiege des Virus gehandelt, und die US-Gesundheitsbehörde CDC benannte als
Risikofaktoren für die Immunschwächekrankheit die vier H-Worte: Homosexualität, Hämophilie, Heroingebrauch und haitianische Abstammung. Zwar wurde die Liste Mitte der 1980er Jahre korrigiert. Aber da war der Tourismus, damals der zweitwichtigste Wirtschaftszweig des Landes, schon zusammengebrochen - und er hat sich seitdem nie mehr erholt.
Vielleicht war es gerade dieses Stigma, das das Land zur Bekämpfung der Krankheit motiviert und Hilfsorganisationen angelockt hat. Das glaubt zumindest der Arzt Jean Pape, der die Gheskio-Klinik im Mai 1982 mitbegründet hat - zwei Monate, bevor die Krankheit überhaupt einen Namen erhielt. Ein Jahr später wurde die Organisation Partners in Health von zwei Amerikanern und zwei Haitianern ins Leben gerufen.
In deren Programm sorgen bezahlte Begleiter dafür, dass Infizierte regelmäßig Medikamente schlucken und sich bei ihren Ärzten melden. "Wenn man einem Patienten Medikamente gibt, darf man vor ihm keine Angst haben", sagt der Begleiter Obner Saint-Valain, der sieben Infizierte betreut. "Wenn es jemandem schlechter geht, muss ich ihn nehmen und in einem Auto ins Krankenhaus bringen." Da sich drei Viertel der neun Millionen Haitianer die medizinische Versorgung in Krankenhäusern noch immer nicht leisten können, bekommen HIV-Patienten ihre lebensrettenden Medikamente gratis.
Werbung für Kondome
Die verstärkte Aufklärung soll zudem dafür sorgen, dass die Krankheit in Haiti nicht wieder zunimmt. Seit 2004 sind mehr als 51 Millionen Kondome nach Haiti importiert und kostenlos verteilt worden. An jeder Straßenecke wird für die Präservative geworben. "Haitianer kennen die HIV-Übertragungswege besser als Studenten in den USA", sagt Pape. In den kommenden Jahren will der Mediziner die Infektionsrate unter ein Prozent drücken.
Auch Micheline Leon arbeitet inzwischen als Begleiterin für Partners in Health und betreut überwiegend Tbc-Patienten. Ihre Scham sei inzwischen Stolz und Zuversicht gewichen, sagt sie: "Ich habe keine Angst mehr."