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"Ich bin wie der Erdboden"

Von Andrea Nießner

Reflexionen
Der Hirte Ghahreman Khameschi lebt in einer harten, archaischen Bergwelt.
© Sh. Habibian

Der iranische Schriftsteller Mahmud Doulatabadi hat in seiner Jugend als Schafhirte gearbeitet. Wir haben ihn in Teheran getroffen, und ebenso einen greisen Hirten in den Bergen besucht.


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Südlich des Kaspischen Meeres erstreckt sich von Westen nach Osten auf einer Länge von etwa 600 Kilometern das Alborzgebirge, dessen südliche Ausläufer unmittelbar an die Hauptstadt Teheran heranreichen. Nordöstlich der Stadt liegt als höchste Erhebung des Iran und des gesamten Nahen Ostens der 5604 Meter hohe Damavand, Ziel für begeisterte Bergsteiger aus aller Welt. Poetisch beschreibt der Dichter Mohammad-Taqi Bahar (1884-1951) den stets schneebedeckten Vulkan als "weißen Dämon", an den in der Mythologie ein dreiköpfiger Drache namens Azhi Dahaka gekettet ist.

Der Schriftsteller Mahmud Doulatabadi (2. v. l.) mit seinen Gästen: Peter Gruber, Bodo Hell, Andrea Nießner und Farhad Nadjafi (v. l. n. r.).
© S. Firnzubadi

Einige Autostunden nordwestlich von Teheran liegt die Kleinstadt Kelardasht (Provinz Mazarandan). Weiter taleinwärts nehmen wir in der Alpinstation Roud Barak Quartier, die als Ausgangspunkt für eine Gipfeltour auf den zweithöchsten Berg des Landes gilt, den Alam-Kuh (4848 Meter, Auf- und Abstieg 72 Stunden). Unser erstes Ziel sind die vorgelagerten Hochebenen von Mazichal, wo wir durch Weidegebiete wandern und mit unserem Guide Ali Farzi den Schafhirten Ghahreman Khameschi in seiner bescheidenen Hütte aufsuchen.

Karges Hirtenleben

Ähnlich wie zwischen dem Schnalstal in Südtirol und dem Nordtiroler Ötztal bewegen sich auch im Alborz jedes Jahr Hirten mit ihren Schaf- und Ziegenherden zwischen Sommerweiden im Gebirge und Winterweiden in der Ebene des Kaspischen Meeres hin und her. Sie leben in einfachen Unterkünften, schlafen auf Fellen am Boden vor der offenen Feuerstelle, nebenan der Platz für Milchverarbeitung, Lebensmittel und Habseligkeiten. Aufgrund des frühen Wintereinbruchs sind die hochgelegenen Almen heuer fluchtartig verlassen worden. Es ist zwar Gras nachgewachsen, kurz und schön grün, aber für das Vieh nicht gut verträglich.

Vom Schmelzwasser ist der Boden aufgeweicht, sodass selbst die Nissan Patrols im Schlamm stecken bleiben. Wir gehen zu Fuß weiter. Die zwei Wiener Botaniker, die uns begleiten, informieren zunächst über neueste Studien zu Klimaerwärmung, Beweidung und Tourismus, und deren Auswirkung auf die hiesigen Berggebiete. Im Weidekuschelgelände stehen mächtige Eichen, und auf den feuchten Triften blüht eine Unzahl von herbstlichen Safrankrokussen. Bald entdecken wir eine unseren Alpen nicht unähnliche Flora sowie die bekannten Weidegangeln, welche die Hänge weithin gerippt erscheinen lassen. Von sogar hier zurückgelassenen Dosen eines weltbekannten Tauringetränks würde die Chronistin lieber schweigen. Aus dem Bildhintergrund strahlen die höheren Gipfel schneebedeckt herüber.

Der Hirt Ghahreman (zu Deutsch "Held") bietet uns einen Platz direkt an seinem Feuer in der Hütte an. Dieser hagere Mann um die achtzig hat für uns schon köstlich duftendes Weißbrot gebacken. In einer flachen Aluminiumpfanne mit Deckel, die er immer wieder mit Asche und Glut bedeckt, bäckt ein weiteres Brot. Mit einem schürhakenähnlichen Stock schiebt der Hirte Holzscheite in die Glut. Inzwischen ist der Tee fertig. Ghahreman wäscht die Gläser sorgfältig, füllt Teekonzentrat ein und gießt mit kochendem Wasser auf. Dass man das Zuckerstück nach kurzem Eintauchen in den Tee mit den Zähnen festhält und die opalfarbene Flüssigkeit nachgießt, wissen wir schon. Über unsere Mitbringsel scheint sich der verschmitzte Hirte zu freuen: Warme Wollfäustlinge vom Ramsauer Lodenwalker und süßes Pistaziengebäck. Er erzählt uns, dass man als Gast alles essen dürfe, was einem angeboten wird, nur mitnehmen dürfe man nichts. Auch die Gartenfrüchte eines Gastgebers seien tabu. Ebenso wäre es eine Sünde, die Trinkschale von einer Quelle zu entfernen.

Tod und Opfer

Der Rauch sticht uns in die Nase, die Augen tränen. In der Ecke liegt ein Schaf mit verschnürten Beinen unter Laubbüscheln und Decken. Es sei krank, meint der Hirte, und er müsse erst ins Tal gehen, um eine Medizin zu holen. Im Übrigen habe er schon so viele tote Schafe gesehen, dass es auf eines mehr oder weniger nicht ankomme. Und dann macht er eine Bemerkung, die uns überrascht: Ein totes Schaf könne sogar als Opfergabe für uns Gäste aufgefasst werden. Und schon regt es sich. Sollte das Tier doch noch gesund werden, sei es auch gut. Drei Helfer habe er momentan, die gerade mit den Schafen weitab unterwegs seien.

Das Fundament der Hütte besteht aus Steinen, Holzbrettern und Paletten, auf einem kleinen Mauervorsprung stehen einige wenige Küchenutensilien und Gewürzdosen. Die Dachkonstruktion wirkt provisorisch, und allerlei Planen, Wellbleche und ausrangierte Wahlplakate bieten notdürftig Schutz.

Sein Sohn sei bei einem Unfall ohne eigenes Verschulden ums Leben gekommen. Als Vater des Verunfallten hätte er den Todesfahrer ins Gefängnis bringen können, außerdem hätte er Anspruch auf eine große Summe sogenannten "Blut"-Gelds gehabt. Aber sein Sohn sei ja ohnehin weg, sagt er. Dagegen helfe weder eine Gefängnisstrafe für den Verursacher noch eine zweifelhafte finanzielle Entschädigung. Er habe sie nicht angenommen. So ein Geld würde bitter schmecken und ihm sein weiteres Leben verderben. Bei der Verabschiedung senkt Ghahreman Khameschi seinen Blick. Weil er uns schon zuviel gesagt hat, oder weil ihn eine Frau fotografiert hat?

Besuch beim Dichter

Der ehemalige Hirte und im Zusammenhang mit dem Literaturnobelpreis immer wieder genannte 77-jährige Schriftsteller Mahmud Doulatabadi (sprich: dolotóbodi), der uns wider Erwarten in seiner Wohnung empfängt, will ganz genau wissen, wer wir sind.

Durch den täglichen Verkehrsstau haben wir uns in Richtung Norden der Stadt bewegt, wo der Autor in der Wohnanlage "Atisaz Buildings" wohnt. Der riesige Komplex wurde noch in der Schah-Zeit von der halbverstaatlichten Firma gleichen Namens gebaut und ist nicht weit weg vom bekannten Evin-Gefängnis.

Auch hier, im 23. oder 24. Stockwerk, genießen wir die sprichwörtliche Gastfreundschaft: Tee, Kaffee, Trauben, Nüsse und kandierte Früchte stehen bereit. Mahmud Doulatabadi, in gemessenem Abstand vor uns in einem Sessel sitzend, gibt uns viel Zeit dafür, uns einzeln vorzustellen und zu sagen, warum wir zu ihm gekommen sind. Er will es genau wissen. Einen kurzen Moment lang frage ich mich, ob ich bei ihm ein Gefühl besonderer Vorsicht uns gegenüber wahrgenommen habe. Der Gedanke verflüchtigt sich aber, denn als er erfährt, dass es Schriftsteller sind, die noch dazu im Sommer als Hirten arbeiten, und die mit seinen Büchern etwas anfangen können, öffnet er sich uns gegenüber spürbar.

Auch ihm haben wir Geschenke mitgebracht, vor allem aber das Ansinnen, ihn zu einer Lesereise in Österreich zu animieren. Obwohl er mit seinem Schweizer Verleger befreundet ist, erscheint es ihm mehr als merkwürdig, dass von seinem zehnbändigen Hauptwerk "Kelidar", einer weit ausgreifenden erzählerischen Analyse der Hirtengesellschaften, nur zwei Bände übersetzt wurden und keine Hoffnung auf Fortsetzung besteht. Unter der Schah-Zeit galt er in seinen Themen als zu rückschrittlich (er war zwei Jahre inhaftiert), nach der Revolution schätzt man ihn wohl als zu säkular ein.

Doulatabadi stammt aus dem Nordosten des Iran (der Provinz Khorassan nahe Turkmenistan), und zwar aus dem kleinen Dorf Dowlat Abad (sic!) südlich der Stadt Sabzevar. Er hat sich autodidaktisch über das Theater und mittels intensiver Lektüre sozialisiert. In seinen Romanen behandelt er die Lebenswelt der kurdischen Nomaden, bisweilen auch aus weiblicher Perspektive, ergreift für die Schwachen Partei und behandelt sogar das Schicksal der Fremdarbeiter.

Erdverbundenheit

In einem Interview weist er darauf hin, dass er früh erfahren hat, wie wichtig und wertvoll manuelle Arbeit ist. Vielleicht verleiht diese Tatsache seinem Werk so viel Authentizität. "Ich bin wie der Erdboden, nehme alles auf, die Sonnenstrahlen, den Regen, und wenn die Erde bebt, dann bekomme ich Risse." So hat sich Mahmud Doulatabadi einmal selbst charakterisiert.

Ende Februar 2018 wird er nach München kommen, wo er vom Verein Khane Iran zum Iranischen Kulturfest in Geiselgasteig eingeladen ist. Für kommenden Herbst ist eine Österreichrundreise mit Leseauftritten geplant. Wir freuen uns sehr, ein wenig dazu beitragen zu können.

Werke von Mahmoud Doulatabadi sind in deutschen Übersetzungen von Bahman Nirumand und Sigrid Lotfi im Unionsverlag Zürich erschienen:
Der leere Platz von Ssolutsch. 1991
Die Reise. 1992
Kelidar. 1997
Die alte Erde. 2000
Der Colonel. 2010
Nilofar. 2016

Das bilaterale Projekt "Literatur und Lebenswelt Alm" kam auf Einladung des Österreichischen Kulturforums in Teheran zustande (Oktober 2017, Organisation Thomas Kloiber, Farhad Nadjafi) und wurde vor allem durch Simultanübersetzer (F. Nadjafi, S. Radjabi) hervorragend begleitet. Ein Symposium an der Shahid Beheshti Universität, Lesungen und ein Filmabend ergänzten das reichhaltige Programm. Teilnehmer der Delegation aus Österreich waren Schriftsteller, Hirten und Botaniker (Bodo Hell, Peter Gruber, Ernst Vitek, Jalil Noroozi, Andrea Nießner).

Andrea Nießner, geboren 1955 in Zwettl, lebt als Physiotherapeutin und Autorin in Salzburg.