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"Ich dachte, jetzt ist alles vorbei"

Von Audra Ang

Politik

Ein Überlebender will nicht schweigen.


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Noch zwanzig Jahre später erinnert sich Qi Zhiyong an jede Einzelheit. Die beißenden Tränengasschwaden. Die von Panzern zermalmten Menschen. Der Schmerz der Kugel, die sein linkes Bein zerfetzt. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 walzte das chinesische Militär auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) die Demokratiebewegung nieder. Hunderte, vermutlich Tausende wurden in Peking getötet, die genaue Zahl ist bis heute unbekannt.

Vorangegangen waren wochenlange Protestaktionen, ausgelöst durch den Tod des 1987 von Hardlinern abgesetzten Parteichefs Hu Yaobang am 15. April. Die Demonstrationen waren weitgehend friedlich geblieben, auch nach der Verhängung des Kriegsrechts am 20. Mai. Doch am Abend des 3. Juni war es mit der Geduld der Machthaber vorbei. "Ich sah, wie Leute überrollt wurden. Überall spritzte Blut", erinnert sich Qi, damals 33 Jahre alt und Bauarbeiter. "Die Panzer rückten vor, als ob die Menschen gar nicht da wären. Mir standen die Haare zu Berge. Mir war kalt bis ins Mark."

Dieser Abend, an dem er sein Bein verlor, machte aus dem braven Parteigenossen einen Regimekritiker mit einem einzigen Ziel: über die Ereignisse zu berichten, die von der Obrigkeit totgeschwiegen werden. Das hat ihn seinen Arbeitsplatz gekostet, seine Frau und seine Freiheit. Doch sein neu gefundener christlicher Glaube und seine Hartnäckigkeit halten ihn aufrecht. "Die jungen Leute, die essen Hamburger und tragen bekannte Marken. Doch wenn vom 4. Juni die Rede ist, haben sie nur eine vage Vorstellung davon, was tatsächlich passiert ist", sagt Qi. "Demokratie ist für alle Menschen da. Und wir müssen mit den Leuten reden und sie auf die Idee bringen."

Kritiker werdenmundtot gemacht

Die chinesische Führung hat jegliche öffentliche Diskussion über das Tiananmen-Massaker abgewürgt. Wer das Tabu bricht, wird mundtot gemacht - wie der damalige Soldat Zhang Shijun, der vorigen Monat nach einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur Associated Press festgenommen wurde. "Die Kommunistische Partei behauptet, der Retter des Volks und das Größte auf Erden zu sein. Sie sagt, sie liebt die Menschen und achtet die Menschenrechte", sagt Qi. "Aber sie hat das Feuer auf die Menschen eröffnet und gibt es 20 Jahre später noch immer nicht zu."

Im Lauf der Jahre sprach Qi immer wieder mit ausländischen Medien und Menschenrechtsorganisationen. Häufig wurde er festgenommen. Sicherheitskräfte beschatten ihn und beobachten die Wohnung, in der er mit seiner zweiten Frau und der zwölfjährigen Tochter lebt. Wenn sich China von der Schokoladenseite präsentieren will wie bei den Olympischen Spielen im vergangenen Sommer, muss die Familie die Stadt verlassen. Vor dem Jahrestag des Tiananmen-Massakers sei schon vorigen Monat seine Freiheit eingeschränkt worden, sagt Qi. Die Staatssicherheit habe ihn gewarnt: "Benimm dich! Früher oder später wirst du verhaftet, auch wenn du behindert bist."

Am Nachmittag des 3. Juni 1989 radelte Qi zur Arbeit, vorbei am Tiananmen-Platz, der seit Wochen von Demonstranten besetzt war. Er sah Menschen davonrennen und roch Tränengas. Er sah zwei Studenten ein verletztes Mädchen wegschleppen. Radfahrer berichteten, dass Panzer unterwegs seien. Gegen 23 Uhr kehrte er mit Arbeitskollegen zum Platz zurück, um einmal die Statue der "Göttin der Demokratie" zu sehen, die die Studenten vor Tagen aufgestellt hatten. Ihm bot sich ein völlig anderes Bild. Die Zelte, in denen die Studenten kampiert hatten, waren leer oder zusammengefallen. Ein blutverschmierter junger Mann radelte vorbei und berichtete, Soldaten hätten im westlich gelegenen Muxidi-Bezirk das Feuer eröffnet und Menschen erschossen.

"Kannte so etwas nur aus Nazi-Filmen"

"Ich begriff, das ringsherum Soldaten waren, mit Gewehren, Helmen und dunklen Brillen", erzählt Qi. "Ich hatte Angst, weil ich solche Szenen nur aus dem Fernsehen kannte, aus Filmen über die deutschen Faschisten." Panzer rollten die Hauptstraße entlang und legten die Geländer um "wie Nudeln". Qi rannte durch das Gewirr der Gassen nahe des Platzes und suchte Schutz. Da waren Polizeitrupps mit Helmen und mannshohen Schilden. Von einem Lastwagen sprangen Soldaten und rückten in Dreierreihe vor. Die Menschen flohen in Panik. "Als nächstes sah ich die Leute übereinander fallen. Dann fiel ich selbst", sagt Qi und verzieht das Gesicht in Erinnerung an den Schmerz und die Benommenheit, als ihn der Schuss traf. ",Helft mir!, schrie ich." Er schob den anderen beiseite, der auf ihn gefallen war, Blut durchtränkte seine Hose und sammelte sich auf der Erde, Schreie gellten ihm in den Ohren. "Ich dachte, jetzt ist alles vorbei."

Ein Passant verband mit seinem Hemd die Wunde, eine Frau brach ihre Haustür aus den Angeln als Trage für den Verwundeten. Ein Krankenhaus war verschlossen, ein anderes wies ihn ab, erst nach fünf Stunden wurde er von einer Klinik aufgenommen. Sein Bein musste amputiert werden. An manchen Tagen schmerzt es nach wie vor - wie seine Erinnerung.