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Ich fürchte, also bin ich

Von Uschi Schleich

Reflexionen
© photos.com

Jeder hat sie, keiner will sie. Zu viel von ihr macht das Leben schwer, zu wenig davon ist lebensgefährlich. Und ganz ohne sie wäre das Leben sterbenslangweilig: die Angst.


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Das ist ein Outing: Ich bin ein Angsthase. Betonung auf Angst, nicht auf Hase, bitteschön. Mein Problem ist nur: Keiner glaubt mir. Ich habe Höhenangst und klettere auf wilden Klettersteigen herum. Wenn ich in den Bergen unterwegs bin, zieht es mich auf schmale Grate und Firnschneiden - denn dort, und nur dort, macht sich bei mir ein Gefühl des Fliegens bemerkbar. Von Flugangst bin ich glücklicherweise verschont geblieben. Dafür fürchte ich mich vor öffentlichen Auftritten, halte aber trotzdem jedes Semester meine Schreibwerkstätten auf der Uni ab. Das kann doch nicht sein, dass du Angst hast, sagen sogar meine besten Freunde verwundert.

Angst als Entwicklungshelfer. Warum tut ein Mensch genau das, was ihm Angst macht? Ist das noch normal? "Angst ist ein Gefühl, das uns zeigt, in welchen Lebensbereichen wir uns entwickeln müssen, wo wir lebendiger und kompetenter werden können. Deshalb ist es wichtig, der Angst nicht auszuweichen, sondern sich der Angst zu stellen und sich mit ihr auseinander zu setzen", sagt die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast. Die Professorin für Tiefenpsychologie an der Universität Zürich und erfolgreiche Sachbuchautorin ist überzeugt, dass Angst unser Leben bereichern kann. Angst zu haben, sei keine Schwäche, sondern etwas normal Menschliches. "Der Sinn der Angst erschließt sich, wenn Angst als Herausforderung zu einem erfüllteren Leben verstanden wird." Verena Kast plädiert daher für mehr Gelassenheit im Umgang mit der Angst. "Wir Menschen sind sterblich. Gelassenheit heißt, mit Unsicherheiten im Leben zu rechnen und dennoch nicht zu resignieren. Gelassenheit ist auch eine Form der Tapferkeit."

Angst ist zuallererst ein nützliches Gefühl. Es signalisiert uns: Pass auf! Angst soll uns vor drohenden Gefahren warnen und so vor Schaden bewahren. Das Gefühl der Angst ist gekoppelt mit einer Reihe von körperlichen Anpassungsreaktionen, die uns helfen sollen, mit auftauchenden Gefahren besser fertig zu werden. So schlägt unser Herz bei Angst schneller, der Blutdruck steigt, die Hände werden kalt oder feucht, wir atmen tiefer, um mehr Sauerstoff aufzunehmen, die Muskeln sind angespannt und sprungbereit kurz, wir zeigen alle Anzeichen von Stress im Körper. Ist die Gefahr vorüber, reguliert der Körper schnell wieder in den Normalzustand zurück.

Angst als Spaßfaktor. Manchmal macht Angst auch Spaß. Im Kino, wenn wir uns einen richtig grusligen Thriller ansehen. Oder eben nicht ansehen, weil wir vor lauter Furcht die Augen schließen oder den Pulli über das Gesicht ziehen. Warum fahren Menschen mit der Geisterbahn? Okay, weil sie Kinder haben. Das ist eine Erklärung. Kinder fahren aber mit der Geisterbahn, weil es so schön gruslig ist. Auch das Gekreische auf der Achterbahn hat mit Lust an der Angst zu tun. Fallschirmspringen, Seiltanzen, Extremklettern, Bungee-Jumping - ohne Angst wäre der Reiz, sich mit zusammengeschnürten Füßen an einem Gummiseil kopfüber von einem Kran zu stürzen, wohl nicht vorhanden.

Angst macht aber auch Mut. Denn wer keine Angst hat, kann auch seinen Mut nicht unter Beweis stellen. Mut ist ohne Angst nicht erlebbar, Mut entsteht erst durch das Annehmen und die Überwindung der Angst. "Häufig wird Mut mit Furchtlosigkeit gleichgesetzt", ärgert sich der Psychotherapeut Arnold Retzer. "Das ist völlig falsch. Mut hat die Angst zur Voraussetzung. Der Ängstliche ist der Mutige. Vor dem Furchtlosen kann einem dagegen angst und bang werden." Mehr Mut zur Angst empfiehlt auch der deutsche Psychologe Johannes Lerch. "Die Angst hat zwei Kräfte", betont er. "Eine, die bedrohend und beklemmend ist und mich lähmt, und eine lichte Seite, die mich anspornt und mobilisiert und mir Mut macht. Wenn die Angst nicht zu groß ist, kann sie Kräfte freisetzen, die den Mut stärken."

Aber wie funktioniert das? Wie kann ein Mensch seine Angst in Mut umwandeln? "Wer Angst hat, hat das Gefühl der Enge, der Kehlkopf wird eng. Also ist alles hilfreich, wodurch im Körper und in der Seele Weite geschaffen wird", weiß Johannes Lerch und empfiehlt, Räume zu verlassen, rauszugehen und sich zu bewegen. Durch Bewegung kann das Adrenalin wieder abgebaut werden, das durch die Angst ausgeschüttet worden ist.

Über die Angst reden. Dringend rät Lerch auch, über die Angst zu reden, die eigenen Ängste auszusprechen, sich nicht zurückzuziehen. "Es ist wichtig, dass man sich nicht seinen Fantasien ausliefert, die machen die Angst nur noch größer." Wenn ein Mensch aus Angst nicht zum Zahnarzt geht, werden darunter nicht nur seine Zähne leiden, er wird auch immer mehr Horror vor dem ungeliebten Zahnarztbesuch entwickeln. Er wird schweißgebadet von Wurzelbehandlungen und gezogenen Zähnen fantasieren, wo vielleicht eine simple Zahnfleischbehandlung genügt hätte, um das Problem zu lösen. Und am Ende wird er vielleicht so lange den Zahnarzt gemieden haben, bis eines Tages das Horrorszenario tatsächlich eintritt: Ein zu lange vernachlässigter Zahn muss nun wirklich gezogen werden.

Nicht zu wenig, nicht zu viel. Angst kann ein sehr hilfreiches Gefühl sein, solange sie uns nicht in ausweglose Situationen treibt und uns nicht am Leben hindert. Zuwenig Angst kann uns in Gefahr bringen, weil wir dann das Risiko unterschätzen. Zuviel Angst macht aber krank. Laut aktuellen Daten leidet mittlerweile jeder zehnte Europäer an einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Angststörung. Neben Depressionen gehören Angststörungen auch in Österreich zu den häufigsten psychischen Krankheiten. Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Angststörungen sind mit Therapien gut behandelbar.

Aber das Ziel einer Therapie kann nicht sein, ein völlig angstfreies Leben zu führen. Das wäre nicht nur unmöglich, es wäre schlicht und einfach auch lebensgefährlich. "Angst gehört zum Menschsein dazu", konstatiert der Psychotherapeut Arnold Retzer und plädiert für einen positiven Umgang mit der Angst. "Die Angst macht uns auf uns selbst aufmerksam. Ich habe Angst, also bin ich."

Aus Angst aufs Leben vergessen. So gesehen können wir die Angst auch als ein Lebenszeichen auffassen. Oder aber, in der Extremvariante, als Aufforderung, zu leben. Denn dort, wo sich Angst breit macht, bleibt immer weniger Platz für das Leben. Es liegt an uns, wie viel Platz wir der Angst einräumen. Wir können aus Angst zu versagen die Herausforderungen des Lebens ablehnen. Das wäre bequem, aber auch sterbenslangweilig. Die Arbeit nicht wechseln, weil uns der neue Job überfordern könnte. Die unglückliche Beziehung nicht beenden, weil wir Angst vor der Einsamkeit haben. Die Wohnung nicht kaufen, weil es noch eine bessere geben könnte. Ende nie. "Es ist schlimmer, aus Angst vor Fehlern nicht gelebt zu haben, als mit Fehlern zu leben", schreibt daher der Wiener Existenzanalytiker, Arzt und Psychotherapeut Alfried Längle in seinem Buch "Sinnvoll leben". Unserer letztlich größten Angst, der Angst vor dem Tod, setzt Längle eine viel größere Gefahr entgegen und weist gleichzeitig auf die wichtigste Funktion der Angst hin: "Es ist nicht das Schlimmste, sterben zu müssen. Viel schlimmer ist es, nicht gelebt zu haben. Es ist gut, wenn uns Angst auf diese größte Gefahr aufmerksam macht."