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Die ehemalige UNDP-Direktorin, Inge Kaul, über die Schwächen der globalen Entwicklungsziele.
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"Wiener Zeitung": Bill Gates hat einmal gesagt, die globalen Ziele für Entwicklungspolitik (Millennium Development Goals, kurz: MDGs) seien die beste Idee für die Bekämpfung der weltweiten Armut, die er je gehört habe. Stimmen Sie dem zu?Inge Kaul: Ich schätze Bill Gates sehr, aber da stimme ich ihm nicht so ganz zu, denn die MDGs motivieren und weisen die Richtung, aber wir sind diese Ziele falsch angegangen. Sie brauchen ein bisschen mehr zu essen? Da haben sie mehr Essen. Mehr Kleidung, mehr Gesundheit oder eine Spritze? Bitteschön. Aber so geht es nicht. Im Grunde müssen sich Resultate aus dem gesamten Entwicklungsprozess ergeben.
Was kann man tun, um das zu erreichen?
Man muss in Landwirtschaft, Straßen und ordentliche Städte und Transportwesen investieren, und dann wird ein Land in der Lage sein, genügend Steuergelder zu mobilisieren und Einkommen zu haben, um auf Dauer gewisse Gesundheitsstandards oder Schulbildung zu garantieren. Insofern hat es mich besorgt, dass diese Ziele so als Direktmaßnahmen angegangen wurden und vieles von diesem breiteren Entwicklungsprozess - der auch mit dem internationalen Handelsregime und dem Finanzmarkt zusammenhängt - entkoppelt wurde.
Ist es ein Problem, dass es für die MDGs keinen Erfüllungsplan oder Budget gab? Hätte man das mitdenken sollen?
Das ist eigentlich das Problem jeder UN-Resolution. Wir haben uns jahrelang getroffen, um die Post-2015-Agenda zu diskutieren, aber wir haben dabei vorwiegend Ziele definiert, und zwar welche, die wir schon seit 1950 im internationalen Raum haben. Das Hauptproblem, das ich mit dem Prozess habe, ist, dass das Mittelstück nicht vorhanden ist. Wie komme ich vom Ziel zum Effekt? Entwicklung ist wahnsinnig teuer, wenn man auf wichtige Sachen, die man dafür braucht, ein scharfes Patent legt und die Leute Jahre warten müssen, bis sie sich diese leisten können. Insofern könnte Entwicklung eigentlich billiger sein, wenn man ein anderes Handelsregime, ein anderes Patentrecht hätte. Dann könnten auch die Entwicklungsländer ihre Entwicklung mehr durch Selbstverdienen bestreiten.
Was sind denn die Schwächen bei der Formulierung der Post-2015-Agenda?
Vielleicht bin ich naiv und ein simpler Typ, aber ich kann nicht mit hundert Zielen gleichzeitig umgehen. Ein Schritt nach dem anderen. Ich würde da zwei kritische Ansatzpunkte sehen. Erstens: Klimawandel. Bankenkrisen sind sekundär. Es macht nichts, wenn einmal eine Bank zusammenfällt, die steht schon wieder auf. Davon geht die Welt nicht unter. Aber der Klimawandel, wenn wir eventuell über drei Grad hinausschießen, ist das prekär. Zweitens: Ich weiß ja nicht, ob Sie schon einmal in den Zustand gekommen sind, unter Dehydration zu leiden, und wissen, wie weh das tut. Das tut ja so weh. Mir ist das einmal passiert und seitdem wache ich manchmal nachts auf und höre ganz Afrika schreien. Es ist unmenschlich, da zuzuhören. Warum wir in der Lage sind, so viel Geld für Bankenrettungen zu mobilisieren und gleichzeitig nicht in ähnlicher Weise intensive Investitionen machen können, um im Klimabereich und bei der Bekämpfung von vorzeitigem Sterben einen echten Unterschied zu machen, das ist für mich eine unbeantwortete Frage.
Viele Experten kritisierten die MDGs, weil sie angeblich so formuliert sind, dass arme Länder sie gar nicht erreichen können. Sind die neuen Ziele für nach 2015 anders gestaltet?
Wir sehen dass die Zahl der "failed states" nach oben geht. Denen kann man nicht sagen, sie sollen eigene Mittel mobilisieren, denn sie haben keine. Die müssen erst einmal wieder aufgebaut werden. In einer Welt, in der wir alle voneinander abhängig sind, macht das etwas aus. Wir sehen das im Terrorismusbereich.
Was impliziert das für die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit?
Entwicklung hat ja stattgefunden, trotz aller Fehlschläge. Es gibt wahnsinnig viele gut ausgebildete Leute, und wir werden immer mehr Menschen. Wie stellen sich unsere Politiker in Europa oder anderen Industriestaaten vor, wie in 2030 oder 2050 die Verteilung von Produktionsstätten und Zentren aussehen? Wo sind die Jobs? Was wird von Maschinen und Robotern gemacht und was von uns? Wir sagen immer "leaving nobody behind", aber wie stellen wir uns vor, dass wir alle einigermaßen angenehm leben können, satt werden und zufrieden sind? Dass sich da niemand Gedanken darüber macht, wundert mich. Es geht dabei nicht nur um Arbeitsplatzschaffung in arabischen Ländern oder sonst wo. Wir müssen uns über die Arbeitsverteilung in der Welt Gedanken machen.
Brauchen wir überhaupt eine globale Entwicklungsagenda?
Die Ziele, die jetzt wieder aufgeschrieben wurden, die gibt es. Wir haben sie bestätigt und bestätigt und noch einmal unterschrieben und mit Nachdruck wiederholt. Wir müssen uns wesentlich mehr Gedanken über die Implementierung machen.
Wo würden Sie da ansetzen?
Was ich mir in der Agenda gewünscht, dass darauf geachtet wird, was wir gemeinsam in den nächsten Jahren in Hinblick auf Finanzmarktgestaltung und im Weltwährungsfonds unternehmen können, damit die Schocks, die ja auf uns zukommen, auch von armen Ländern besser abgefedert werden können. Straßen müssen gebaut werden und so weiter, aber auch das hat sich geändert, denn mittlerweile gibt es auch die Brics-Bank (neu gegründete Entwicklungsbank von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, Anm.), die genau für solche Sachen Mittel zur Verfügung stellt. Dennoch gibt es so viel anderes, was zu tun ist. Im Grunde ist uns die Idee von effektiver Entwicklung ja vielleicht auch eine unheimliche.
Halten Sie die Brics-Bank für eine wirkungsvolle Idee?
Es ist eine ganz tolle Idee. Denn diese Gestaltungsprinzipien, die jetzt in die Brics-Bank eingeflochten worden sind, das sind Ideen, die Entwicklungsländer seit Jahren und Jahrzehnten auf den Meetings vom Weltwährungsfonds und der Weltbank vorgetragen haben. Aber es ist nur hier und da ein bisschen davon umgesetzt worden. Mit der neuen ökonomischen Macht dieser Länder wurde daraus eine selbstrealisierbare Idee. Gleichzeitig übt das natürlich auch Druck auf die bestehenden Institutionen aus.
In manchen Ländern gibt es Vorschläge oder auch schon Praktiken, die die Koppelung von Entwicklungshilfe etwa an das Stimmverhalten der Empfängerländer in der UNO oder die Wiederaufnahme ihrer Flüchtlinge koppeln. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Ich bin eigentlich eine recht pragmatische Person. Ich würde mich fragen: Was will ich erreichen? Will ich eine stabile Welt ohne Finanzkrisen, eine Welt ohne spontan exzessive Flüchtlingsströme? Will ich eine Welt, in der sich der Terrorismus wieder beruhigt? Da würde ich vorgehen wie jemand, der ein Flugzeug oder ein Auto bauen will. Da würde ich ja auch nicht sagen, die Räder oder das Lenkrad sind zu teuer, die lassen wir weg. Genau das machen wir aber schon, wenn es um globale Armutsbekämpfung geht. Wir überlegen uns nicht den Produktionsprozess.
Was müsste konkret verändert werden?
Es fehlt im internationalen System bilateral und multilateral an einem CEO, der die nationalen Bemühungen der Länder unter einen Hut bringt. Auch im Gesundheitsbereich geht es nicht nur darum, den Gesundheitssektor in den Ländern zu stärken, sondern man muss Krankheiten bekämpfen, damit sie nicht durch die globalisierte Welt schwirren. Diese Produktionsidee und CEOs für diese ganzen großen Themen haben wir noch nicht. Noch nicht einmal national. Weitgehend haben wir Sektorministerien und wissen gar nicht so recht, wo wir Energiepolitik überhaupt unterbringen sollen. Aber die Probleme, über die wie hier sprechen, sind transnational. Insofern hinkt der ganze institutionelle Apparat hinterher, und das hält auch viel auf.
Woran liegt das?
Wir haben noch nicht kapiert, dass globale Probleme in unserem eigenen Warenkorb sind. Sie wollen Klimastabilität. Wenn das Ozonloch nicht geflickt worden wäre, hätten Sie vielleicht Hautkrebs. Oder die Donau tritt über die Ufer und dann staunen alle, dass ihre Keller nass sind.
Sehen Sie das auch bei der Ebola-Krise in Westafrika?
Natürlich. Aber da gibt es auch noch den Aspekt, dass viele der globalen Krankheiten, wie etwa HIV/Aids, auf die wir uns in den letzten Jahren konzentriert haben, zum Teil Ressourcen abgesaugt und das internationale Gesundheitssystem geschwächt haben. Wenn jetzt zusätzlich eine ansteckende Krankheit auftritt und es gefährlich wird, merken wir, dass wir eigentlich zusätzliche Gelder mobilisieren müssen. Denn es nutzt ja uns, wenn Ebola nicht hierherkommt. Es nutzt unserem Gesundheitssystem, und daher sollte das Geld auch aus diesem Budget kommen, statt Entwicklungshilfegelder dafür zu verwenden. Sicherlich gilt das auch für Klimapolitik. Wir haben eine gewisse Umweltschuld, die wir durch das Budget unserer Umweltministerien zurückzahlen sollten und nicht durch das Budget für Entwicklungszusammenarbeit. Etwa 25 bis 30 Prozent der Entwicklungsgelder werden für solche Dinge aber verwendet. Und dadurch schaffen wir wieder einen Widerspruch, denn effektive Bekämpfung ist das auch nicht. Wie wollten Sie denn Wald schützen, wenn die Leute daneben nicht überleben können?
Zur Person
Wissen
Die Millennium Development Goals (MDGs) sind acht im Jahr 2001 von der UNO formulierte globale Entwicklungsziele, die man bis 2015 zu erreichen hoffte. Dazu zählen die Bekämpfung des Hungers und extremer Armut weltweit, Primärschulbildung für alle, Geschlechtergleichstellung, Reduktion von Kindersterblichkeit, Bekämpfung von Aids, Malaria und anderen Krankheiten, Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Mütter, ökologische Nachhaltigkeit sowie der Aufbau einer globalen Entwicklungspartnerschaft. Es gelang allerdings den meisten Ländern nicht, diese Ziele im geplanten Ausmaß zu erreichen. Für nach 2015 gibt es nun eine Nachfolge-Agenda.
Inge Kaul
ist Professorin für Entwicklungspolitik an der Hertie School of Governance in Berlin und ehemalige Direktorin des Büros für Entwicklungsforschung der Vereinten Nationen (UNDP). Sie war auf Einladung der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE) in Wien.