Heinz Sommer hat sein Kaffeehaus, das Café Sperlhof im zweiten Bezirk, im Lauf der Jahre zu einem Treffpunkt unterschiedlichster Menschen und Gruppen gemacht.
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Herr Sommer ist ein Staatsvertragskind. Figl, Raab und Schärf sind aus Moskau zurück. Im Kreißsaal wird debattiert, ob man ihn Leopold oder Julius taufen soll. Die Mutter besteht auf Heinz Richard, nach dem Vater Richard Heinz. So kams.
Heute "schupft" Heinz Sommer das Café Sperlhof, Große Sperlgasse 41, eine Anlaufstelle für Menschen aller Altersstufen, aller sozialen Schichten, einiger Nationalitäten, diverser Glaubens- und Unglaubensrichtungen; ein Lokal mit einem Büchertauschtisch, auf dem täglich drei große Säcke Bücher die Lesenden wechseln. Hier werden lateinamerikanische Tänze trainiert, lernt man Italienisch oder geht zu einer Lesung. Hier trifft man auf Ute Bock, zu deren Gunsten Bibi Haag und Herr Sommer eine Postkartenaktion ins Leben gerufen haben.
Und man kann hier den guten Geist des Ortes dazu befragen, wie er dazu gekommen ist, diesen Melting Pot der Mazzesinsel zu schaffen. Nun, da war zum einen die Großmutter vom Südtiroler Bergbauernhof, die, was an solch abgelegenen Wohnorten nicht unbedingt üblich, Fremde stets erfreut willkommen geheißen hat. Weiters die Mutter, aufgewachsen auf eben jenem Hof; sie geht während des Zweiten Weltkriegs mit einer adeligen Dame für Jahre nach Rom, lernt Italienisch, um kurz darauf dem Charme eines Wiener Bergsteigers zu erliegen, der die Südtiroler Berge besser kennt als sie. Sie folgt ihm nach Wien, wo er sie erst einmal in einen Deutschkurs schickt.
Von Südtirol nach Wien
Das Eheglück dauert nicht lang. Herr Sommer senior wird schwer krank. Die Mutter lässt die Kinder bei den Großeltern in Südtirol, um als Vertreterin für Steppdecken Geld zu verdienen. "Wie die Großmutter und ich kann sie mit allen Leuten reden", so Herr Sommer. Also verdient sie dementsprechend.
Als das Kind sieben Jahre alt ist, stirbt der Vater. Heinz Sommer wird nach Wien geholt. Er hat nie wirklich einen Kindergarten besucht, kommt nun direkt in eine Klasse mit dreißig Wiener Mitschülern. Im ersten Halbjahr schreibt die Lehrerin einfach ein Genügend über alle Fächer - außer über Religion und Betragen. "Es sind die Sechziger Jahre", sagt Herr Sommer, "es herrscht ein Klima der Unterdrückung, der Angstmache. Die Lehrkräfte waren damals durch den Krieg ja auch noch völlig kaputt". Die Kindheit ist vorbei. Die Mutter muss Geld verdienen, macht jetzt in Vorhangerzeugung. Sie kann sich wenig um die Kinder kümmern. Heinz Sommer kommt für zwei Jahre ins Salesianum Don Bosco in der Hagenmüllergasse, fühlt sich dort wohl. Dann redet einer der Patres dem Zwölfjährigen zu, das Priesteramt anzustreben. Und in Unterwaltersdorf dann weht ein anderer Wind. "Das war die Hölle. Da sind ja nur Psychopathen herumgelaufen. Ich weiß, dass in unserer Klasse vier Burschen missbraucht worden sind. Aber diese Patres waren ja selber völlig fertig. Die waren da wie in einem Kochtopf. Einer wurde vom anderen beobachtet. Einmal in der Woche gab es zwei Stunden Ausgang in die Ortschaft. Da saß einer und hat uns beobachtet, und die Patres selbst wurden wieder beobachtet. In der Dritten wollte man mich rausschmeißen, weil ich mir halt nicht immer alles gefallen lassen habe. In der Vierten, nach zwei Jahren, habe ich gesagt, da bleibe ich nicht."
Im Reisebüro
Heinz Sommer ist gut in Geografie. Die Geschwister raten ihm zu einer Lehre im Reisebüro. Sieben Jahre lang ist er bei einem jüdischen Reisebüro in der Weihburggasse. Hier bekommt er billige Flugtickets, die dem Büro von den Fluglinien angeboten werden. Damals gibt es in Wien noch kaum AusländerInnen. Herr Sommer lernt andere Kulturen auf seinen Reisen kennen - Erfahrungen, die für die Arbeit im Café heute sehr wertvoll sind. "Ich kann mit jedem reden, ich hab da keine Probleme. Und ich habe keine Vorurteile."
Als das Ehepaar, das das jüdische Reisebüro leitet, in Rente geht, geht auch Heinz Sommers Zeit dort zu Ende. Das Geschäft wird an das Niederösterreichische Reisebüro verkauft. Dem neuen Geschäftsführer fällt auf, dass Herr Sommer in seiner Freizeit die Anti-Zwentendorf-Plakette auf dem Mantel trägt, was ihm nicht gefällt. Er sucht eine Gelegenheit, den Mitarbeiter loszuwerden. Als Heinz Sommer vom zukünftigen Ex-Chef gebeten wird, in Mexiko dreitausend Schilling bei einem Hotel abzuholen, nutzt der Geschäftsführer die Gelegenheit. Er wirft ihm, der das Geld nur an seinen alten Chef übergeben will, vor, er wolle es für sich behalten. "Sag ich, Herr Doktor, ich hab das mit Herrn Händler ausgemacht. Geh ich zum Hörer und rufe die Arbeiterkammer an. Schauen Sie, hab ich gesagt, jeder Angestellte hat seine Pflichten, aber man hat ja auch seine Rechte. Sagt der: So, hiermit sind Sie entlassen. Sag ich, na gut, hat das jemand mitgehört. Und da war so ein alter Bote, der war über achtzig. Die anderen haben sich ja nicht getraut, etwas zu sagen. Aber der hat gleich gesagt: Ja, ich hab das gehört, dass er gesagt hat, Sie sind entlassen."
Herr Sommer bekommt seine Abfertigung und sattelt um. "Ich habe 1981 eine Kellnerlehre gemacht, im zweiten Bildungsweg. Und dann habe ich kurze Zeit später die Konzessionsprüfung gemacht. Lustigerweise, meine Pflichtschulzeit war eine der Vierer und schlechten Noten. Meine beiden Lehren und die Konzessionsprüfung aber habe ich mit Auszeichnung gemacht. Das war typisch bei mir. Das, was man mir befohlen hat, das hat nie funktioniert. Das, was ich selber gemacht habe, schon."
Das eigene Kaffeehaus
Über die Nachfolgebörse erfährt der begeisterte Kaffeehausgeher vom Café Sperlhof. "Das konnte ich mir mit einem kleinen Kredit leisten. Und ich habe mir gedacht, irgendwie wird das schon was werden." Die Geschichte des Lokals ist eine bewegte: Vor dem Zweiten Weltkrieg unter den damaligen jüdischen Besitzern ein Künstlertreff, in dem sich die Leute aus dem berühmten Carltheater in der Praterstraße nach den Vorstellungen eingefunden haben, wird es nun, nachdem die letzte Besitzerin lange krank gewesen und schließlich gestorben ist, nur noch von ein paar Tarockierern und Karambolspielern besucht.
"Dazwischen" erzählt Herr Sommer, "hat das Lokal einem Nationalsozialisten namens Eitelbös gehört, der derart fanatisch war, dass er nach dem Krieg flüchten musste - und das, obwohl man da doch für gewöhnlich mehr als nachsichtig war." Dann die schöne Anekdote: "Als nach dem Krieg die Russen gekommen sind, hat der Oberst das Piano auf die Kreuzung stellen lassen und dort den Donauwalzer gespielt."
Das Café wird zehn Jahre lang von einem tschechischen Kommunisten geführt. "Schließlich hat es eben Frau Schaller übernommen, die sich das Lokal auf gewisse Weise verdient hat. Zuerst hat sie es gepachtet, dann gekauft. Sie hat das Lokal sehr gut geführt. Am Anfang war sie so streng, dass man nur mit Krawatte reindurfte. In den Fünfziger Jahren war das vielleicht notwendig. Das war eine wilde Zeit."
Herr Sommer stellt nun 1986 erst einmal fest, dass seine Gäste Karambol spielen oder tarockieren, dabei einen Kaffee trinken und dann gehen, aber keiner bleibt sitzen. Er kommt auf die Idee, von zu Hause ein paar Brettspiele mitzunehmen. Langsam kommen auch Frauen ins Lokal. Der erste Schritt zur Vielfalt ist getan. Von den Brettspielen hat er heute neunhundert Stück. Längst aber gibt es viele andere Gründe, deretwegen die Leute ins Lokal kommen - vor allem seine grundsätzliche Einstellung zu Menschen. Seine Umgangsformen - hier werden alle gesiezt - machen es, dass Gruppen von Roma-Jugendlichen ebenso ins Lokal kommen wie solche, in denen man das Jodeln erlernt. "Vor zehn Jahren", so Herr Sommer, "habe ich noch schwere Nachteile gehabt dadurch, dass ich mich so positioniert habe, dass ich mich für die Leute eingesetzt habe. Heute profitiere ich eher davon; weil jetzt viele Gruppen kommen, die sonst nicht kommen würden, wenn ich mich nicht so aus dem Fenster gelehnt hätte."
Intolerante Gäste
Als der Schachclub, der einen wichtigen Grundpfeiler seines wirtschaftlichen Überlebens ausmacht, zunehmend von rassistischen Persönlichkeiten geführt wird, wirft er die Gruppe aus dem Lokal; obwohl er gerade noch einen Schrank um zwanzigtausend Schilling eingerichtet hat, in dem die Mitglieder ihre Utensilien verstauen können. Intoleranz wird von ihm nicht toleriert. "Da hat einer meinem kurdischen Kellner nachgesehen und gesagt, dass man sich nun schon von einem Kanaken ein Bier bringen lassen muss. Die Leute an den umliegenden Tischen mussten da mithören. Da habe ich gespürt, dass da nicht die Stimmung verbreitet wird, die bei mir üblich ist."
Die anschließenden Klagsdrohungen und Verleumdungen sind nicht einfach auszuhalten. Herr Sommer hält durch. Ja, und die ersten fünf Jahre steckt er jeden verdienten Schilling wieder ins Lokal, kann Räume dazunehmen. Das bewährt sich heute, da die unterschiedlichsten Gruppen hier den unterschiedlichsten Aktivitäten nachgehen. "Diese Vielfalt wäre wahrscheinlich nicht möglich, wenn ich nur einen Raum hätte. Zuerst müssen zwar mal alle hierher kommen. Jeder und jede wird einmal hier gesehen. Aber dann verteilt sich das, je nachdem, was die spielen oder machen. Das macht mir eben Spaß. Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, dass ich in den sechsundzwanzig Jahren einen Tag gehabt hätte, an dem ich gesagt hätte, dass ich jetzt wieder arbeiten muss."
Das Café Sperlhof ist dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr geöffnet, immer von sechzehn Uhr bis halb zwei Uhr morgens. Früher hat er ja schon um zehn aufgemacht. Aber dann kam der Herzinfarkt. "Der Doktor hat gesagt, trinken Sie ein Glas Rotwein am Tag und machen Sie ein Nichtraucherlokal." Macht er. Gäste bleiben aus. Zweieinhalb Jahre hat es gedauert. Nun läuft das Lokal wieder wie vorher. Die Leute, die jetzt da sind, wissen ihr zweites Wohnzimmer zu schätzen, noch mehr aber dessen Betreiber.
Er selbst nimmt das positive Echo, das ihm entgegenschlägt, gelassen: "Ich mach ja nichts Besonderes. Ich versuche die Leute normal zu behandeln, ohne dass ich jemanden herabstufe oder emporhebe. Wenn einer hundert Euro dalässt, werde ich ihn genau so behandeln wie wenn er zwei Euro dalassen würde. Und das merken die Leute. Man soll nicht tun, als wären die Leute so dumm."
Lisa Spalt, geb. 1970 in Hohenems, lebt als Autorin in Wien. Arbeiten zum Handeln in Sprache und Bild. Letzte Einzelpublikation: "Blüten. Ein Gebrauchsgegenstand", Czernin Verlag, Wien 2010.