Lucia Heilman überlebte die NS-Zeit in einem Versteck, im Burgtheater erzählt sie von ihrem Schicksal
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"Wiener Zeitung":Sie werden im Burgtheater im Rahmen der Aufführung "Die letzten Zeugen" davon erzählen, wie Sie als Kind die NS-Zeit in einem Versteck überlebt haben. Fällt es Ihnen leicht, darüber zu sprechen?Lucia Heilman: Es war die schwerste Zeit meines Lebens, und es fällt mir keineswegs leicht, darüber zu sprechen. Es ist aufwühlend. Schließlich waren es schreckliche Kindheitserlebnisse, die sich tief eingeprägt haben. Ich fühle mich aber auch verpflichtet, über diese Zeit zu sprechen. Vorstellen kann sich das heute ohnehin niemand, aber die Erinnerung daran sollte, nein: muss bleiben.
Was ist Ihre früheste Erinnerung an die Zeit des Unheils?
Am 13. März 1938 marschierte Hitler in Österreich ein - alle in meiner Umgebung wussten, dass für uns eine schreckliche Zeit anbrechen wird. Natürlich begriff ich damals nicht warum, aber die Furcht meiner Mutter übertrug sich sofort. Die Angst wurde zu einem Grundgefühl. Ich wusste: Laufe ich auf der Straße, bedroht oder schlägt mich jemand, dann wird mir niemand zu Hilfe kommen. Bald wurde uns ohnehin alles verboten. Wir durften nicht mehr im Park spielen, nicht mehr zur Schule gehen.
Wie verbrachten Sie die Zeit?
Anfangs gab es für jüdische Kinder provisorische Schulen. Ich erinnere mich daran, wie wir einmal beim Zentralfriedhof Erbsen ernteten. Das sind durchaus schöne Erinnerungen. 1941 hörten diese Aktivitäten schlagartig auf, es gab nichts mehr für uns zu tun. Damals begannen die Transporte der Juden in die Konzentrationslager.
Was wussten Sie über die Transporte?
Man wusste, man fährt in den Tod. Das war allen klar, das war auch der Wiener Bevölkerung bewusst.
Sie mussten mitansehen, wie Ihr Großvater abtransportiert wurde.
Es war der 10. November 1938. Es läutete, vor der Tür standen zwei SS-Männer. Nicht nur für mich als Kind waren sie mit ihren schwarzen Ledermänteln und Stiefeln bedrohliche Gestalten. Meinen Großvater, der damals 64 war, nahmen sie mit nach Buchenwald. Bald darauf erhielten wir ein Telegramm mit der Nachricht, dass er gestorben sei. Da meine Mutter berufstätig und mein Vater im Ausland war, verbrachte ich die meiste Zeit mit meinem Großvater. Er war mir näher als die meisten Menschen.
Was machte Ihre Mutter beruflich?
Meine Mutter war außergewöhnlich. Sie studierte 1918 Chemie - in einer Zeit, als es noch kaum Frauen an den Universitäten gab. Im Lainzer Krankenhaus fand sie eine Stelle im medizinisch-chemischen Labor und wurde später dessen Leiterin. 1938 wurde sie, wie alle Juden, entlassen, doch vorher musste sie noch ihre Nachfolgerin ausbilden. Wir versuchten anschließend zu fliehen, mein Vater bemühte sich, uns aus Österreich herauszuholen. Vergebens. Reinhold Duschka, der beste Freund meines Vaters, half schließlich meiner Mutter und mir. Er ist der Held meiner Geschichte. Seinetwegen erzähle ich von meinem Überleben.
Wer war Reinhold Duschka?
Mein Vater und er kannten sich seit Jugendtagen, sie waren gemeinsam Bergsteigen. Reinhold hatte eine Metallwerkstatt, in der er uns einquartierte und uns half zu überleben. Er baute eine Art Verschlag aus Holz, darin waren Matratzen und Decken zum Schlafen. Niemand durfte wissen, dass er uns versteckt hält. Befand sich jemand in der Werkstatt - Kunden oder Lieferanten -, mussten wir ganz still sein. Hätte man uns entdeckt, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet.
Vier Jahre hielten Sie sich im Verborgenen.
An Werktagen, wenn niemand außer Reinhold da war, konnten wir uns in der Werkstatt aufhalten und halfen mit. Ich lernte zu löten und zu feilen, ich konnte sogar Rillen in Metallplatten machen, was gar nicht so einfach ist. Besonders schwierig waren die Wochenenden.
Weshalb?
Da mussten wir uns ruhig verhalten. Bücher halfen mir, die Zeit zu überbrücken. Reinhold versorgte mich aus der Leihbibliothek mit Karl-May-Romanen und Mädchenbüchern.
In dieser Enge gab Ihnen Ihre Mutter viel Halt.
Ich war froh, dass sie da war. Für irgendwelche Mätzchen war unser Leben zu schwer. Wenn ich heute in der Straßenbahn Mädchen kichern höre, denke ich, wie schön es ist, wenn die Jungen so drauflos kichern, ohne ersichtlichen Grund. Ich konnte das in ihrem Alter nicht. Ich kann es bis heute nicht.
Waren Sie über den Kriegsverlauf informiert?
Es gab Radio und Zeitung in der Werkstatt. Wir hatten eine Landkarte, mit Stecknadeln markierte ich den Frontverlauf.
Wie erlebten Sie in Ihrem Versteck das Kriegsende?
Krieg ist sehr laut. Flugzeuge fliegen in Geschwadern über die Stadt, die Sirenen, der Einschlag der Bomben - das alles macht ungeheuren Lärm. Wien wurde bis zuletzt verteidigt, das verursachte einen Höllenlärm. Und plötzlich wurde es still. Da wussten wir, der Krieg ist zu Ende. Für die österreichische Bevölkerung war das furchtbar. Aber für uns waren die Besatzer die Befreier. Endlich konnten wir uns frei bewegen. Ich konnte wieder laufen, so weit und so lange ich will. Nicht nur das fehlte mir in der Zeit in der Werkstatt. Nach vier Jahren im Versteck konnten wir wieder ein normales Leben führen. Ich war glückselig.
Haben Sie nach Kriegsende daran gedacht, Wien zu verlassen?
Darüber habe ich oft nachgedacht. Zunächst ging ich wieder in die Schule, ich wollte Ärztin werden, begann ein Medizinstudium. Ich wusste natürlich, dass sich die Menschen in Österreich nicht über Nacht geändert haben. Diejenigen, die vorher Nazis waren, sind Nazis geblieben. Mein Vater schickte mir aus Australien eine Einreisebewilligung, und ich fuhr auch zu ihm. Mein Studium konnte ich dort aber nicht fortsetzen, es wäre zu teuer gewesen. Schließlich entschloss ich mich, zurückzukehren. Ich wurde Ärztin, lernte meinen Mann kennen, gründete eine Familie. Trotzdem war mir immer bewusst, dass ich mit den Tätern lebe. Erst jetzt, mit dem langsamen Aussterben diese Generation, wird mir leichter.
Haben Sie Ihren Töchtern Ihre Lebensgeschichte erzählt?
Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht. Sie wissen, dass ich in einem Versteck überlebt habe. Aber sollte ich ihnen Schauergeschichten erzählen? Ich erzählte ihnen lieber Märchen.