Statt der "langen Reise nach Ithaka" wurde es Griechenlands größte Tragödie.
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Kastellorizo. Um ihren einzigen Gast kümmert sich Kristalla Sifoniou mit besonderer Sorgfalt. Ihm soll es schließlich gut gehen. Zwei Scheiben Brot, Butter, Käse und Schinken stehen schon auf dem Küchentisch. "Was möchtest du trinken?" "Einen Tee." Sifoniou redet gerne und laut. Das muss sie an diesem Morgen auch. Denn während sie spricht, führen ein halbes Dutzend Politiker im Fernsehen ein Wortgefecht. Der Moderator hat alle Hände voll zu tun, um Ordnung in die hitzige Debatte zu bringen. Doch die Studiogäste lassen ihn nicht.
Kristalla Sifoniou stellt ihren dampfenden Kaffee auf den Tisch. Im Fernsehen läuft eine Werbepause. "Die sagen immer dasselbe, aber ich schaue mir trotzdem gerne die Diskussionen an. Seit 24 Jahren betreibt sie eine kleine Pension auf der Insel Kastellorizo, am Ende der griechischen Welt. Berühmt wurde Kastellorizo, vier Fährstunden hinter Rhodos, 1991, als hier "Mediterraneo" gedreht wurde. Der italienische Streifen spielt in den vierziger Jahren, als die Italiener die Insel besetzten.
Es sollten neunzehn Jahre verstreichen, bis wieder Bilder aus dem abgelegenen Kastellorizo um die Welt gingen. Diesmal wurde kein Spielfilm gedreht. Der damalige Premier Georgios Papandreou rief vielmehr auf Kastellorizo den erst kurz davor eingerichteten Europäischen Rettungsmechanismus an. Das Staatsfernsehen übertrug die Szene im malerischen Hafen live. Geld gegen strenge Auflagen - so lautete der Deal. Seinen Schritt hatte Papandreou geheim gehalten, nicht einmal die Insulaner wussten Bescheid. Was damals keiner ahnte: Griechenlands Tragödie, die schlimmste Krise in der Nachkriegszeit, nahm da ihren Lauf.
Seither reißen die Hiobsbotschaften aus Hellas nicht ab. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall, die Arbeitslosigkeit ist landesweit auf über 27 Prozent geklettert, fast täglich bringen sich Menschen um - aus purer Finanznot. Kastellorizo, dreihundert ständige Einwohner, kann die Krise nichts anhaben, könnte man glauben. 300 Sonnentage im Jahr, schmucke Häuser, eine wunderschöne Bucht. Weit weg vom Festland, von den Metropolen, wo Obdachlose im Müll nach Essen suchen. Doch der Schein der heilen Welt trügt.
Keine Gäste aus Zypern mehr
Kristalla Sifoniou sagt: "Wir sind zerstört worden." Die Insel lebe vorwiegend vom Tourismus. Doch die Griechen blieben fern, sie hätten kein Geld mehr für die Fähre oder das Flugzeug. Nun fallen auch die Zyprioten aus - nach dem Zwangsabgaben-Schock auf Spareinlagen auf der benachbarten Mittelmeerinsel. Kristalla Sifoniou ist verzweifelt. Ihr einziger Trost nach einem langen Winter ohne Einkommen: "Im Sommer besuchen uns einige Hochzeitsgesellschaften von Griechen, die vor Jahrzehnten nach Australien ausgewandert sind. Das ist alles."
Kristalla Sifoniou ist 75 Jahre alt, auf Kastellorizo geboren. Ihrem Mann Alexandros (78) sieht man die angeschlagene Gesundheit an. Der großgewachsene Grieche musste sich mehreren Operationen unterziehen. Auf Rhodos, in Athen. Der Magen mache ihm zu schaffen, dazu sei er herzkrank. Die Flüge, die Klinikaufenthalte, die Bestechungsgelder für die Ärzte, Fakelaki genannt, damit die Behandlung optimal verläuft - das habe viel Geld gekostet. So viel, dass das Ersparte bald aufgezehrt gewesen sei. Notgedrungen mussten Alexandros und Kristalla Sifoniou 15.000 Euro Kredit aufnehmen.
Die fälligen Raten können sie nur mit Mühe begleichen. Es sind nicht nur die 200 Euro monatlich für die täglich 15 Pillen, die der herzkranke Alexandros so dringend braucht. Die Krise hat auch Sohn Jannis (53) schwer getroffen. Kristalla Sifoniou zeigt ein Foto. Auf Rhodos betreibt Jannis Sifonios eine Kaffeerösterei. Bis vor wenigen Jahren seien die Geschäfte so gut gelaufen, dass Jannis mit der Belieferung für Hotels, Cafes und Bistros kaum nachgekommen sei, erzählt seine Mutter. Doch damit sei es vorbei. "Die Geschäfte haben immer weniger Kundschaft und Jannis röstet immer weniger Kaffee." Und: Bestellen Jannis‘ Kunden noch Kaffee, dann wollen sie erst später zahlen - wenn alles wieder besser läuft. Mama Kristalla sagt: "Bis zuletzt habe ich meinem Sohn finanziell unter die Arme gegriffen, so gut ich konnte - auch wenn er schon 53 ist. Das machen hier die Eltern so." Und jetzt? Kristalla Sifoniou senkt den Blick. "Jetzt kann ich nicht mehr."
Nur noch die halbe Pension
Nicht das letzte Problem, das die Familie plagt. Tochter Stamatia lebt mit ihrem Mann Kostas (66) auch auf Rhodos. Bis vor drei Jahren hatte Kostas als Angestellter der halbstaatlichen Stromgesellschaft DEI einen gutdotierten Job: 3000 Euro netto im Monat. Für ihn, Hausfrau Stamatia und die drei Kinder reichte das für ein unbeschwertes Leben. Kostas kaufte eine Wohnung - auf Pump. Damals kein Problem, zumal Kostaas beim Eintritt in den Ruhestand Anspruch auf 140.000 Euro Abfindung hatte - staatlich garantiert. 2010 ging er in den Ruhestand. Auf seine Abfindung wartete er fast drei Jahre. Erst kürzlich erhielt er 40.000 Euro. Mehr ist nicht drin, sagt man ihm jetzt. Rentner Kostas gerät immer mehr in die Bredouille. Seine ursprünglich üppige Rente wurde im Zuge der Sparpolitik drei Mal gekürzt - aktuell sind es noch 1200 Euro pro Monat. Doch die nächste Kürzung ist schon beschlossen. Dann wird Kostas seinen Kredit nicht mehr bezahlen können.
"Unsere Familie hat immer zusammengehalten. Doch jetzt verlieren wir den Boden unter den Füßen", sagt Kristalla Sifoniou. Hat sie Hoffnung, dass es mit ihrer Familie bald aufwärts geht? "Nein. Dem ganzen Land geht es doch so schlecht." Und mit Griechenland? "Die Politiker sind nicht dazu in der Lage. Ich habe im vorigen Juni Samaras gewählt (der konservative Premierminister führt die Drei-Parteien-Regierung an, Anm.). Ich habe das bereut. Am liebsten würde ich mir dafür meine Arme abhacken." Kristalla steht auf. Die Polit-Talkshow ist vorbei. Dann sagt sie ganz leise. "Ich war ein fröhlicher Mensch. Ich bin so traurig, ich kann schon nicht mehr schlafen."
Wenige Meter von der Pension steht die orthodoxe Kirche von Kastellorizo. Pater Georgios ist auf dem Heimweg. Sechs Kinder hat er und zehn Enkelkinder. Die meisten hätten Kastellorizo verlassen - hier gebe es keine Perspektive. Wie alle christlich-orthodoxen Priester in Griechenland bezieht Pater Georgios sein Gehalt vom Staat. Die Sparpolitik treffe ihn hart. "Vor der Krise hatte ich noch 1300 Euro netto im Monat, heute nur noch 800."
Spricht man den bärtigen Pater auf Georgios Papandreou an, verzieht sich sein Gesicht. Ihm klinge noch in den Ohren, was der Sozialist Papandreou als Oppositionsführer vor der Wahl im Oktober 2009 vollmundig behauptet habe: "Geld gibt es." Man könne Steuerschulden eintreiben, um Beamtengehälter und Pensionen nicht einfrieren zu müssen. Herausforderer Papandreou gewann mit fast 44 Prozent. Die Beamtengehälter und Pensionen sind seither bis zu fünfzig Prozent gekürzt worden. Was er jetzt empfinde? "Angst habe ich keine, dafür bin ich schon zu alt. Wütend bin ich, sehr wütend - auf die Politiker. Damals, im April 2010, als hier in Kastellorizo alles begann, hätten wir Bewohner eins tun müssen: Papandreou ins Meer werfen."