Viele Menschen aus dem evakuierten Mariupol landen in Russland. Eine Betroffene spricht von Deportation.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Mila Pantschenko findet sich auf einem Bahnsteig an einem Ort im Südwesten Russlands wieder. In ihrer Heimatstadt Mariupol gab es nichts mehr zu essen und auch kein Wasser mehr. Deshalb stellte sich die 53-Jährige den russischen Truppen und gelangte aus dem umkämpften Gebiet hinaus. In Taganrog, einer russischen Stadt am Asowschen Meer, bestieg sie zusammen mit 200 anderen Ukrainern einen Zug.
Sie hätten gehört, sie würden in die Region von Rostow gebracht, also immer noch in der Nähe der ukrainischen Grenze. Als sie schließlich ankamen, befanden sie sich in Suworow, einer zentralrussischen Stadt, rund 1.000 Kilometer entfernt. "Da war viel Polizei", erinnert sich Pantschenko. "Der Bahnhof war abgeriegelt, russische Zivilisten konnten nicht zu uns." Dann seien sie von einer Menschenmenge freundlich empfangen und zunächst mit Plätzchen versorgt worden.
Ähnliches berichtet Natalia Bil-Maer, die ebenfalls aus Mariupol fliehen musste. Sie hätten keine andere Wahl gehabt, als ihre Heimatstadt zu verlassen und nach Russland gebracht zu werden, meist weit von der ukrainischen Grenze entfernt. Reuters konnte die Berichte unabhängig nicht überprüfen. Das russische Präsidialamt in Moskau reagierte auf eine Anfrage nicht.
Pantschenko erzählt, sie und die anderen Menschen aus dem Zug seien nach ihrer Ankunft in ein Sanatorium in der Nähe von Suworow gebracht worden. Dort habe sie ein Zimmer bekommen, mit einem kleinen Kühlschrank, einem Fernseher und zwei Einzelbetten. Auf einem Tisch habe sie Lebkuchen, Kekse, Eistee und Wasser vorgefunden. Personal der Klinik in Krainka habe dann ihre Fingerabdrücke genommen, sie fotografiert und im Beisein eines Anklägers verhört. Vor dem Krieg arbeitete Pantschenko als Managerin in einer Zisternenfabrik und war Mitglied im Stadtrat.
In Krainka sei sie gefragt worden, ob die Unterdrückung der russischen Sprache in der Ukraine seit 2014 zugenommen habe, erzählt Pantschenko, die auch Russisch spricht. In dem Jahr hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert, die Regionen Luhansk und Donezk in der Ostukraine gerieten unter die Kontrolle von prorussischen Separatisten. Eine der Begründungen Moskaus für den Angriff auf die Ukraine ist das Ziel, russischsprechende Menschen vor Nationalisten zu schützen. "Ich habe nur gesagt, dass ich Ukrainisch sprechen kann und ich es liebe", sagt Pantschenko. "Ich habe gesagt, dass ich keine Unterdrückung des Russischen erlebt habe."
Kiew: Menschen verschleppt
Ljudmila Denisowa, Ombudsfrau in der Ukraine für Menschenrechte, sagte vergangene Woche, Russland habe bisher 134.000 Personen aus Mariupol gebracht. Davon seien 33.000 gegen ihren Willen deportiert worden. Unabhängig lassen sich diese Zahlen nicht überprüfen. Rachel Denber von der Organisation Human Rights Watch berichtet von mindestens einem Fall, von dem klar dokumentiert sei, dass jemand zwangsweise nach Russland gebracht wurde, "gezwungen auf die Seite, die dein Land überfallen hat". Nach Angaben eines ukrainischen Abgeordneten von Mittwoch hat Russland bereits rund 500.000 Menschen aus der Ukraine verschleppt. Nach der Genfer Konvention von 1949 handelt es sich um ein Kriegsverbrechen, wenn eine Partei massenhaft Zivilisten der anderen Seite auf ihr Territorium bringt.
Russland erklärt, es biete humanitäre Hilfe für diejenigen an, die Mariupol verlassen wollten. In einem Eintrag auf der Internetseite der russischen Regierung vom 12. März sind 95.909 Personen gelistet, die die Ukraine verlassen haben und sich nunmehr in Russland aufhalten. Am 14. April erklärte Generaloberst Michail Misinzew, dass 138.014 Zivilisten von russischen Soldaten aus Mariupol gerettet worden seien. Pantschenko wurde nach ihren Angaben am 17. März aus der Hafenstadt evakuiert, als tschetschenische Truppen das Gebiet westlich des Flusses Kalmius einnahmen, wo sie zusammen mit anderen Zivilisten in einem Keller Schutz gefunden hatte.
"Sie sagten, wir müssten evakuiert werden, weil sie dort ihr Hauptquartier aufschlagen wollten", sagt Pantschenko in einem Telefonat aus der norditalienischen Stadt Brescia, wo sie mittlerweile lebt. Angesichts des Mangels an Nahrungsmitteln und Wasser habe sie keine andere Wahl gehabt, als in den Bus zu steigen, den ihr die tschetschenischen Soldaten angeboten hätten, um sie in das russisch kontrollierte Donezk zu bringen. In der Ortschaft Bezimenne seien sie von der Polizei verhört worden, auch ihre Fingerabdrücke seien abgenommen worden.
"Wir wurden gefragt, ob wir Verbindungen hätten zu den ukrainischen Streitkräften, und ob wir jemanden kennen würden aus dem Regiment Asow", erzählt Pantschenko. Das Regiment ist ein paramilitärisches Freiwilligenbataillon, das an der Seite der ukrainischen Streitkräfte vor allem in Mariupol kämpft. Die russische Regierung stuft es als faschistisch und russlandfeindlich ein. "Da wir auf keiner Liste standen, haben sie uns wieder in den Bus gesetzt und zum Bahnhof nach Taganrog gebracht."
Natalia Bil-Maer floh am 22. März mit ihrem Mann und zwei Kindern im Alter von sechs und sieben Jahren aus dem Keller eines Wohngebäudes in Mariupol, in dem ein Verwandter lebte. Zunächst wollten sie nach Berdjansk westlich von Mariupol, aber die Straße lag unter Beschuss. "Wir hatten dann nur noch diesen einen Weg", erzählt sie, denjenigen, den russische Soldaten kontrollierten, die sie dann weggebracht und schließlich nach Russland deportiert hätten. Auf ihrem Weg seien sie vielfach befragt worden, die Männer mussten sich ausziehen, weil die Soldaten nach Kämpfern suchten. Einen Tag später befanden sie sich auf russischem Gebiet und wurden zum Bahnhof nach Taganrog gebracht.
Flucht nach Italien
"In Taganrog wurden viele nette Worte an uns gerichtet", erzählt Bil-Maer. "‚Wir haben Euch gerettet. Wir werden Euch etwas zu essen geben.‘" Andere Züge seien nach Tambow und Wladimir in Zentralrussland gefahren. "Es war klar, dass jeder Zug an einen anderen Ort fahren würde." Sobald Bil-Maer ein Telefon benutzen konnte, rief sie eine Tante an, die in der Region von Krasnodar in Russland in der Nähe des Asowschen Meeres lebt. Diese habe die Familie abgeholt. Kurze Zeit später ging es nach Georgien weiter.
Wie sie wieder nach Hause kommen werde, wisse sie nicht, sagt Bil-Maer. Ihr Mann habe die Ukraine illegal verlassen, weil er in einem kampffähigen Alter sei. Sie versuchen, Hilfe zu bekommen von der ukrainischen Botschaft in Tiflis, haben aber nur intern gültige Ausweise dabei. Das ukrainische Außenministerium hat eigentlich zugesagt, nach Russland deportierte Landsleute wieder nach Hause zu holen. Die Botschaft in Russland ist zwar geschlossen, aber andere Vertretungen würden helfen, auch dabei, die nötigen Papiere zu beschaffen.
Mila Pantschenko konnte nach eigenen Angaben die russischen Behörden nach zehn Tagen in Krainka davon überzeugen, den Ort verlassen zu dürfen und nach Nischni Nowgorod zu gehen, um dort Unterschlupf bei der Familie eines Nachbarn zu finden, der mit ihr geflohen sei. Stattdessen seien sie und ihr Nachbar aber nach Moskau gefahren. Von dort aus sei ihnen die Ausreise in die baltischen Staaten gelungen, und schließlich sei sie in Italien gelandet. "Mein Plan ist, Geld zu verdienen und dann in meine Heimat Mariupol zurückzukehren", sagt sie. "Ich möchte so gerne zurück in die Ukraine." (reu)