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"Ich will wirken in dieser Zeit"

Von Oliver Bentz

Reflexionen
Käthe Kollwitz (1867-1945), um 1930.
© Tita Binz/Ullsteinbild

Sie gab dem menschlichen Leiden eine ästhetische Form: Vor 150 Jahren, am 8. Juli 1867, wurde die Graphikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz geboren.


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"Das Werk von Käthe Kollwitz ist die größte Dichtung des heutigen Deutschlands; in ihm spiegeln sich die Prüfungen und das Leid des einfachen Volkes. Diese Frau hat es in ihren Blicken und ihren mütterlichen Armen umfangen, mit zartem ernstem Mitleiden", schrieb der französische Schriftsteller Romain Rolland 1926 über die Künstlerin, in deren Werk, wie in dem keiner zweiten, der Mensch in seiner Kreatürlichkeit, in seinem Mühen, seinem Leiden und seinem Ausgeliefertsein im Mittelpunkt steht. Sie betrieb ihre Kunst nicht um des Erfolges willen - sie wollte mit den Mitteln ihrer Kunst ankämpfen gegen die Ungerechtigkeit, die Armut und die von Menschen gemachten Katastrophen ihrer Zeit.

Wie bei Goya galt das Interesse von Käthe Kollwitz allein dem Menschlichen. "Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind", war das 1922 im Tagebuch niedergeschriebene Lebensmotto der Graphikerin und Bildhauerin, die vor 150 Jahren, am 8. Juli 1867, in Königsberg geboren wurde.

Heirat mit Armenarzt

Ihre liberal eingestellten Eltern ermöglichten es Käthe, die mit Geburtsnamen Schmidt hieß, schon früh, Zeichenunterricht zu nehmen, und sie unterstützten auch ihren Wunsch, ein Leben als Künstlerin zu führen. Sie studierte - in einer Zeit, in der die staatlichen Kunst-Akademien für Frauen noch verschlossen waren - an diversen Künstlerinnenschulen, unter anderem an der sogenannten Damenakademie des Vereins der Berliner Künstlerinnen und bis 1890 in München bei Ludwig Herterich Malerei und die Graphischen Künste. Nach dem Studium heiratete sie 1891 den Arzt Karl Kollwitz und zog mit ihm in eine Berliner Arbeitergegend, den späteren Bezirk Prenzlauer Berg, wo Karl Kollwitz als Armenarzt wirkte.

Käthe Kollwitz war eine Künstlerin mit einem sozialen Gewissen. In ihren zahlreichen, Einflüsse von Expressionismus und Realismus integrierenden Zeichnungen, Holzschnitten, Radierungen und Lithographien, die oft auch in Zeitschriften und Zeitungen und in Form großformatiger Plakate reproduziert wurden, gab sie die Welt der Unterdrückten, der Leidenden, der Kriegsveteranen, der Hungernden und Sterbenden wieder. Sie verlieh damit den Menschen auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter, die meist nicht im Fokus des Interesses der Literatur und Kunst stehen, eine Stimme und gab dem menschlichen Leiden eine ästhetische Form.

Mit ihrem Zyklus "Ein Weber- aufstand" erlangte Käthe Kollwitz 1897/98 erste größere Aufmerksamkeit als Künstlerin. Unter dem Eindruck von Gerhart Hauptmanns sozialkritischem Drama "Die Weber", dessen Uraufführung sie im Februar 1893 an der Berliner Freien Bühne beigewohnt hatte, schuf sie diese Folge von drei Lithographien und drei Radierungen, in denen sie die Not der Weber, ihren Aufstand von 1844 gegen die Ausbeuter und dessen blutiges Ende aus der Sicht der Arbeiter und für diese Partei nehmend ins Bild setzte. Geschickt ein stimmungsvoll malerisches Hell-Dunkel einsetzend, beschreibt sie in den Graphiken eindringlich das Los der Geschundenen, wobei die Dunkelheit zum Zeichen äußerster Not wird.

Auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1898 vielbeachtet, schlugen Max Liebermann und Adolf von Menzel vor, Käthe Kollwitz für ihren Zyklus mit einer goldenen Medaille auszuzeichnen, was Kaiser Wilhelm II. jedoch ablehnte. Wie Gerhart Hauptmanns Theaterstück wurde auch Kollwitz’ Kunst von ihm - der die künstlerische Moderne als "Rinnsteinkunst" bezeichnete - missbilligt, da sie nicht nur historisches Geschehen schilderte, sondern darüber hinaus auch auf aktuelle soziale Missstände verwies. Die großen deutschen Mu-seen jedoch kauften Auflagen ihres Zyklus an, sammelten fortan ihre Werke und stellten sie aus. In einer Selbsteinschätzung aus dem Jahr 1941 betrachtete sie den "Weber-Zyklus" als ihr zeitlebens bekanntestes Werk.

Im Jahr 1906 wurde Käthe Kollwitz für einen weiteren graphischen Zyklus, an dem sie seit 1901 arbeitete, mit dem Villa-Romana-Preis ausgezeichnet. Die Folge von sieben großformatigen Radierungen war dem "Bauernkrieg" gewidmet, der gewaltsamen Erhebung der Bauern in den Jahren 1524/25, die als die größte politische Massenbewegung der deutschen Geschichte gegen Unterdrückung und Rechtlosigkeit gilt.

In der 1908 vollendeten Folge von Druckgraphiken, in denen ein toniger, malerischer Charakter die Zeichnung dominiert, konzentrierte sich Kollwitz voll Partei ergreifenden Mitempfindens auf die Darstellung des Leidens der Bauern und versinnbildlichte in eindringlichen, verdichteten Figurenbildern Not, Wut, Leid und Trauer der Aufständischen.

Vorbild Pietà

Ab 1910 widmete sich Kollwitz auch der Bildhauerei. Obwohl sie vorwiegend mit ihren graphischen Arbeiten bekannt wurde, hat sie - die sich 1917 bang fragte: "Ob meine Plastik nicht auch nur transponierte Zeichnung ist?" - auch als Bildhauerin bleibende Werke geschaffen. Auch im Zen-trum ihrer Bildhauerei steht der Mensch. Ihre Plastiken kennzeichnet eine expressive Körpersprache, ein Zusammenspiel von heftig gesteigerter äußerer Bewegtheit und starker, innerer psychischer Regung.

Vorbilder aus der christlichen Darstellungstradition formulierte sie nach ihren eigenen Bildgedanken um. Besonders das Motiv der "Pietà" griff sie mehrmals in der ihr eigenen Bildsprache auf. Ihre 1993 im vergrößerten Maßstab in der Neuen Wache in Berlin aufgestellte Pietà "Mutter mit totem Sohn" ist heute Teil der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Das Schlüsselereignis ihres Lebens, der Tod ihres jüngeren Sohnes Peter in den Anfangswochen des Ersten Weltkrieges, ließ Käthe Kollwitz zur Pazifistin werden und beherrschte auf Jahre ihr Leben wie ihre Kunst. Mit der in den Jahren 1914 bis 1932 geschaffenen Skulptur "Trauerndes Elternpaar" - eine der beiden Kalksteinfiguren trägt ihre Gesichtszüge, die andere jene ihres Mannes - setzte sie dem Sohn ein ergreifendes Denkmal, das heute auf dem Soldatenfriedhof Vladslo in Belgien steht, wo er beigesetzt ist.

Ihre in der Weimarer Republik entstandenen graphischen Blätter gegen den Krieg, wie etwa die zum Jugendtag in Leipzig 1924 geschaffene und als großformatiges Plakat millionenfach reproduzierte Lithographie "Nie wieder Krieg", auf der ein von unten mit emporgestreckt aufzeigendem Arm ins Bild drängender Jüngling diese Worte leidenschaftlich aus seinem tiefsten Inneren herausschreit, sind bis heute Ikonen der Antikriegsbewegung.

Nur wenige Künstler haben sich über ihre gesamte Schaffenszeit so intensiv mit dem eigenen Bildnis auseinandergesetzt wie Käthe Kollwitz. In mehr als hundert erhaltenen Selbstbildnissen tritt sie dem Betrachter meist mit kritisch prüfendem Blick gegenüber und legt ihr Inneres mit großer Ehrlichkeit offen. Ihre Selbstbildnisse sind Rechenschaft, Zeugnis und Überprüfung ihres Seins.

Vielfach geehrt

Käthe Kollwitz war den führenden Künstlern ihrer Zeit eine geachtete Kollegin. Seit 1898 unterrichtete sie an der Damenakademie des Vereins der Berliner Künstlerinnen. 1901 wurde sie Mitglied der "Berliner Secession". Als erste Frau wurde sie 1919 in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen und erhielt den Professorentitel. Zu ihrem 60. Geburtstag ehrte man die Künstlerin mit vielen großen Ausstellungen. Mit der Verleihung des Ordens "Pour le Mérite" für Wissenschaften und Künste erreichte ihre künstlerische Laufbahn 1929 einen offiziellen Höhepunkt.

1932 gehörte Käthe Kollwitz neben u.a. Albert Einstein, Erich Kästner und Arnold Zweig zu den Unterzeichnern des "Dringenden Appells", in dem 33 bekannte Persönlichkeiten zur taktischen Kooperation von SPD und KPD bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 aufriefen, um einen Wahlsieg der Nationalsozialisten zu verhindern. Nach deren Machtergreifung 1933 wurde sie als Professorin und Leiterin der Meisterklasse für Grafik an der Akademie der Künste kaltgestellt, ihre Kunst als "entartet" diffamiert und aus den Museen entfernt.

Wenige Tage vor Kriegsende, am 22. April 1945, starb Käthe Kollwitz in Moritzburg, wohin sie, nach ihrer Ausbombung 1943 in Berlin, auf Einladung des Prinzen Ernst Heinrich von Sachsen, eines Bewunderers ihrer Kunst, übersiedelt war. Auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde ist sie heute bestattet.

Neue Bücher über Käthe Kollwitz

Gleich drei Biographien beleuchten das Leben der Künstlerin: Yury und Sonya Winterberg erzählen in ihrem nach Recherchen im In- und Ausland und Gesprächen mit den Enkeln der Künstlerin herausgegebenen Buch "Kollwitz. Die Biographie" (C. Bertelsmann Verlag, 432 Seiten, 24,90 Euro) die von Trauer und Sinnsuche, aber ebenso von Lebenslust und leidenschaftlicher Liebe geprägte Lebensgeschichte der Künstlerin vor dem Hintergrund der Verwerfungen und Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts.

Eine umfangreiche biographische Darstellung legt auch Yvonne Schymura mit ihrem Buch "Käthe Kollwitz: Die Liebe, der Krieg und die Kunst" (C. H. Beck Verlag, 320 Seiten, 24,95 Euro) vor, wobei sie besonders die Inanspruchnahme der Künstlerin durch die politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts hinterfragt. Eine komprimierte, fundierte Einführung in Leben und Werk der Künstlerin gibt das von Alexandra von dem Knesebeck herausgegebene Bändchen "Käthe Kollwitz" (Wienand Verlag, 97 S., 12,95 Euro).

Die Künstlerin selbst zu Wort kommen lässt der im Marix Verlag aufgelegte Band "Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken - Ein Leben in Selbstzeugnissen" (420 S., 20 Euro), in dem ihr ältester Sohn Hanns Kollwitz Auszüge aus ihren Tagebüchern veröffentlicht hat. Der im Lukas Verlag erschienene Band "Käthe Kollwitz und ihre Freunde" (160 Seiten, 25 Euro) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Menschen in Käthe Kollwitz’ Umfeld, wie etwa Gerhart Hauptmann, Max Liebermann, Albert Einstein oder Heinrich Zille. Es wird aufgezeigt, wie hoch Käthe Kollwitz geschätzt wurde - und wie sie und ihre Freunde sich gegenseitig künstlerisch inspirierten.

Der engen Verbindung von Käthe Kollwitz’ Leben und Werk mit Berlin spürt der Band "Käthe Kollwitz und Berlin. Eine Spurensuche" (Deutscher Kunstverlag, 304 Seiten, 24,90 Euro) nach, in dem Autoren in zahlreichen Essays das Leben der Künstlerin in der deutschen Hauptstadt und die Hintergründe der Entstehung von Zeichnungen und Druckgraphiken mit Berlin-Bezug thematisieren.

Mit Käthe Kollwitz’ Bauernkriegs-Zyklus beschäftigt sich der im Wienand Verlag erschienene Bildband "Aufstand! Renaissance, Reformation und Revolte im Werk von Käthe Kollwitz" (128 S., 29,80 Euro). Das von Anette Seeler herausgegebene Buch dokumentiert die spannende Genese der sieben grafischen Blätter im Kontext zahlreicher Werke anderer Künstler, die Kollwitz inspirierten.

Oliver Bentz, geb. 1969, lebt als Germanist, Ausstellungskurator und Kulturpublizist in Speyer (D).