Kurden schwanken zwischen Hoffnung auf Autonomie und Angst vor Salafisten.
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Arbil. Maher war gerade im letzten Jahr seines Studiums an der Universität von Aleppo, als er zur syrischen Armee einberufen wurde. Der junge Kurde aus Qamishli hoffte damals, dass er nach den 18 Monaten, die Studenten in der syrischen Armee dienen müssen, sein Studium der Geologie beenden könnte.
Doch dann entwickelten sich die Proteste gegen das arabisch-nationalistische Baath-Regime unter Präsident Bashar al-Assad zu einem Bürgerkrieg und die syrische Armee erlaubte ihren Rekruten nicht mehr abzurüsten. Nach Ende seines Wehrdienstes hieß es, dass Maher nun noch weitere sechs Monate in den Reihen der syrischen Armee kämpfen müsse. Aus einem Wehrdienst in Friedenszeiten war dabei längst ein Kriegseinsatz gegen die Einheiten der Opposition, aber auch gegen die eigene Bevölkerung geworden. "Als sie mir sagten, dass ich noch weitere sechs Monate kämpfen muss, bin ich desertiert. Ich wollte nicht gegen meine eigenen Verwandten kämpfen!", erzählt Maher.
Nach seiner Flucht hatte der Geheimdienst seine besten Freunde - beide Araber - verschleppt. Als ihre Familien beim Geheimdienst nach ihnen fragten, wurde ihnen gesagt, sie sollten das Fragen einstellen, weil sie andernfalls ebenso mitgenommen würden. Seither wartet Maher im Flüchtlingslager Domez auf Nachrichten von seinen verhafteten Kameraden.
Täglich kommen neue Flüchtlinge ins Camp
Das Lager Domez wurde am 4. April fünfzig Kilometer nordwestlich von Mossul am Rande des kurdischen Autonomiegebietes des Irak um ein ehemaliges Militärcamp der irakischen Armee errichtet. Der Boden musste erst entmint werden. Seither kamen nach Angaben der von der Kurdischen Regionalregierung gestellten Lagerverwaltung 3600 Familien und 11.000 Einzelpersonen an, was von der Verwaltung auf ungefähr 27.000 Personen hochgerechnet wird. Wie viele heute tatsächlich hier sind, weiß allerdings niemand. Ein Teil der Familien zog mittlerweile zu Verwandten oder Freunden und versucht, Arbeit zu finden.
Während einige Familien heute in den Städten Arbil oder Suleymania leben, wurden die Sicherheitskräfte der Kurdischen Regionalregierung (KRG) angewiesen, alleinstehende Männer in der Provinz Dohuk festzuhalten. Wenn Deserteure wie Maher in die kurdische Hauptstadt Arbil wollen, werden sie bei den Checkpoints der Peschmerga aufgehalten.
Diese ehemaligen irakisch-kurdischen Guerillakämpfer fungieren heute als bewaffnete Kräfte der KRG und sind für die Sicherheit des kurdischen Autonomiegebietes des Irak verantwortlich. Zudem kontrollieren sie innerhalb Kurdistans auch die Außengrenzen des Irak. Sie sind es, mit denen die Flüchtlinge zuerst in Kontakt kommen.
Wer sich nicht selbständig bis zum Lager durchschlägt, wird von den Peschmerga hierher gebracht. Täglich treffen neue Flüchtlinge ein, manchmal bis zu fünfhundert an einem Tag.
Obwohl sich die Lagerverwaltung der KRG und das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR darum bemühen, möglichst viele neue Unterkünfte zu errichten, können sie mit diesem Ansturm nicht mithalten. Die Neuankömmlinge campieren deshalb zunächst unorganisiert vor dem eigentlichen Lager. Ihnen stehen nur notdürftige Zelte zur Verfügung. Im Camp selbst werden pro Familie laufend gemauerte Notunterkünfte errichtet. Diese sind allerdings nicht für die kalten Winter geeignet, und so wird gerade ein weiteres Stück Land von Minen gesäubert und eingeebnet, um dort winterfeste Unterkünfte zu errichten.
Ahmed Ayoub, der für das UNHCR die Lagerleitung unterstützt, ist zuversichtlich, dass die Unterkünfte rechtzeitig für den Wintereinbruch fertig sein werden. Allerdings wäre der Ansturm neuer Flüchtlinge kaum zu bewältigen: "Wir brauchen mehr internationale Hilfe. Die Kurdische Regionalregierung tut ihr Bestes, aber wenn täglich mehr neue Flüchtlinge kommen, sind die lokalen Behörden einfach überfordert", sagt Ayoub.
Die irakischen Kurden, die selbst aufgrund der Verfolgungen des Regimes Saddam Husseins über lange Fluchterfahrungen verfügen, versuchen ihre Verwandten aus Syrien freundlich aufzunehmen. Einen Massenansturm an Flüchtlingen kann die selbst erst im Aufbau befindliche Region allerdings nicht allein bewältigen.
Lange Geschichte der Kurden-Unterdrückung
Viele irakische Kurden fühlen sich angesichts der Flüchtlinge aus Syrien an ihre eigene Geschichte erinnert. Die lange Unterdrückung der kurdischen Minderheit in Syrien hat die gleichen ideologischen Ursprünge wie die Verfolgung der irakischen Kurden unter Saddam Hussein.
Beide Regime basieren auf derselben arabisch-nationalistischen Ideologie. Beide gehörten unterschiedlichen und immer wieder bitter verfeindeten Fraktionen der gleichen Partei, der Arabisch-Sozialistischen Baath-Partei an. Während das irakische Baath-Regime in den späten 1980er Jahren mit der Anfal-Kampagne und den Giftgasangriffen auf Halabja und dutzende andere kurdische Siedlungen mit einer genozidalen Aufstandsbekämpfung versuchte, kurdische Autonomiebestrebungen zu unterdrücken, setzte das syrische Baath-Regime auf eine autoritäre Assimilationspolitik. Diese umfasste phasenweise auch den Entzug von Staatsbürgerschaften und Umsiedlungen. Kurdisch war weder Amts- noch Unterrichtssprache. Die Kinder lernen in der im Camp errichteten Schule erstmals ihre Muttersprache lesen und schreiben.
Kurdische Proteste wurden in Syrien bislang brutal unterdrückt. Mit diesen Erfahrungen zögerten die Kurden, sich den Protesten gegen das Assad-Regime anzuschließen. Seit dem Herbst 2011 ging die Bevölkerung aber auch in den kurdischen Enklaven verstärkt auf die Straße. Dabei verloren zwar die traditionellen kurdischen Oppositionsparteien teilweise an Einfluss. Dafür bildete sich eine starke parteiunabhängige Jugend- und Basisbewegung. Vor allem in den westlichen Teilen des kurdischen Siedlungsgebietes übernahm zudem die PYD, eine Schwesterpartei der türkisch-kurdischen Guerillabewegung PKK, de facto die Macht.
Zunächst vom Regime geduldet, um die eigenen Kräfte für den Kampf gegen die arabischen Oppositionskräfte freizuhalten, fordert auch die PYD mittlerweile den Sturz der Assad-Regierung. Die Parallelstrukturen der PYD, die mit ihren bewaffneten Kräften und ihren Volksgerichten in den von ihnen kontrollierten Gebieten de facto die Staatsgewalt ausübt, verschärften allerdings die Konflikte mit den alten kurdischen Oppositionsparteien, die im Kurdischen Nationalrat organisiert sind. Unter den kurdischen Flüchtlingen befürchten manche bereits, dass es in Syrisch-Kurdistan zu einem Bürgerkrieg unter den Kurden kommen könnte.
Zugleich ist aber eine gewisse Aufbruchsstimmung zu beobachten. Viele der Flüchtlinge hoffen, dass das Regime bald fallen, der Bürgerkrieg damit beendet wird und dadurch eine Autonomie für die Kurden erkämpft werden könnte.
Hussein aus Qamishli hat sich dem Militärdienst entzogen. Er hat mittlerweile in einem Café in der Nähe der Stadt Ahmedi östlich von Dohuk Arbeit gefunden. "Wenn Assad weg ist, bin ich am nächsten Tag wieder zu Hause!", sagt er mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, wo er seine Zukunft sieht. An einen Bürgerkrieg zwischen verschiedenen kurdischen Parteien glaubt er nicht. Die bewaffneten Einheiten, die derzeit mit Unterstützung Masud Barzanis, des Präsidenten der KRG im Irak aufgebaut werden, würden sich sicher nicht gegen die in den syrischen Kurdengebieten aktive PYD richten.
Eine Aufnahme in Europa bleibt ein ferner Traum
Ohne eine geeinte Vorgangsweise der rivalisierenden kurdischen Parteien würde es auch nach einem Sturz des Regimes sehr schwierig werden, sich eine gewisse Autonomie innerhalb Syriens zu erkämpfen. Der von der Türkei unterstützte Syrische Nationalrat hat den Kurden bisher keinerlei Zugeständnisse für eine Autonomie nach dem Sturz Assads gemacht. Die zunehmende Dominanz radikaler salafistischer Gruppen in der bewaffneten arabischen Opposition könnte die Kurden vom Regen in die Traufe schwemmen.
Maher ist nicht besonders optimistisch für die Zukunft. "In Aleppo kämpft die syrische Armee mittlerweile gegen Al-Kaida. Wenn die gewinnen, wird es für uns Kurden vielleicht noch schlimmer als unter Assad." An eine rasche Rückkehr nach Syrien glaubt er nicht.
Sein Traum wäre vielmehr, irgendwo auf der Welt sein Studium beenden zu können. Von einer Aufnahme in Europa können Flüchtlinge wie er derzeit allerdings nur träumen.