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Ich wünschte mir Wolken, die die passende Stimmung erzeugt hätten

Von Alexandra Pühringer, New York

Politik

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Der Wind hat sich gedreht und so auch die Stimmung in Midtown Manhattan. Bis zum späten Mittwochnachmittag wurde man nur durch die schrecklichen Bilder im Fernsehen und in den Zeitungen an den furchtbaren Terroranschlag auf das World Trade Center erinnert. Seit einigen Stunden weht der Wind eine Brise Schrecken in den bisher friedlichen Teil von New York: Eine Mischung aus Staub, Rauch, Entsetzen und - wie immer klarer wird - Tod. Der Gestank und die Rauchschwaden, die sich in den Straßen niederlassen, vertreiben die beinahe unangenehme Ruhe und friedliche Stimmung und verleiden auch den Aufenthalt im Freien der sich im schönsten Spätsommerkleid präsentierenden Stadt.

Als Dienstag früh im Fernsehen die Bilder des beschädigten Turm eins des World Trade Centers gezeigt wurden und während man über die "Unfallursache" diskutierte, konnte live die zweite Attacke verfolgt werden. Es war jedoch unmöglich, das Ausmaß der Tragödie abzusehen, weshalb die meisten New Yorker sich auf den Weg zur Arbeit machten, sofern sie sich nicht bereits dort befanden. Die Nachricht über den Angriff auf das Pentagon-Gebäude, die Zentrale der US-amerikanischen Militärmacht, und wenig später der Bericht über den Einsturz des südlichen Turms des World Trade Centers raubten jede Illusion, New York könnte einen Tag erleben, wie viele andere. Es herrschte Ausnahmezustand.

Es brach keine Panik aus

Wie Ameisen, die aus ihrem Bau verscheucht wurden, liefen die Menschen in Richtung Norden, in Richtung Sicherheit, wie alle hofften. Taxis, Autos und Lieferwägen, die auf ihren Ladeflächen Menschen mitnahmen, mussten immer wieder den Einsatzwägen der Polizei, der Rettung und der Feuerwehr, deren Sirenen in der ganzen Stadt zu hören waren, Platz machen. Obwohl viel mehr Menschen als sonst in den Straßen waren, wurde friedlich und rücksichtsvoll miteinander umgegangen. Obwohl niemand wusste, was genau passiert war und keinem klar war, ob es weitere Attacken geben wird, brach keine Panik aus. Dieses ruhige Vorgehen konnte auch durch einige verrückte Ausrufe "All Arabs go out of our country" nicht zerstört werden.

Es wurde auch relativ ruhig hingenommen, dass scheinbar alle Telefonleitungen zusammengebrochen waren und es unmöglich schien, via Handy jemanden zu erreichen. Es dauerte beinahe eine Stunde, ehe ich mit meinem Vater sprechen konnte, der seinerseits völlig verzweifelt und vergeblich versuchte, mich zu erreichen. Das Gespräch mit meinem Vater veranschaulichte mir, in welchem Chaos ich mich befand und welchem Terror ich entkommen war. Er schilderte mir, was er in der Fernsehberichterstattung bereits gesehen hatte und bat mich, mich in einem Bunker in Sicherheit zu begeben. Mein Vater ist im Jahr 1939 geboren. Zum ersten Mal in meinem Leben glaubte ich zu verstehen, wie schrecklich, verängstigend und grausam ein Bombenangriff während des 2. Weltkrieges sein musste.

Ein Gefühl der Hilflosigkeit

Zu Hause wurde die Ungewissheit zur schrecklichen Wahrheit. Alle Fernsehsender zeigten das Ausmaß des Terrors; es war und weiterhin ist kaum vorstellbar, dass sich diese Szenen lediglich 6 Kilometer weiter südlich abspielen. In Midtown schien bis auf das öffentliche Verkehrsnetz und die überlasteten Telefonleitungen alles wie eh und je zu funktionieren; sogar die Post wurde zugestellt. Es war beinahe unangenehm, einen wunderschönen und friedlichen Nachmittag vorzufinden. Ich wünschte mir Wolken, die eine passendere Stimmung erzeugt hätten.

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten und mit der Situation umgehen sollte. Ich kam mir so hilflos vor; ich hatte keine Angst mehr vor weiteren Angriffen, ich hatte das Bedürfnis zu helfen und wollte es nicht wahrhaben, dass ich nichts anderes tun konnte, als Blut spenden zu gehen und zu versuchen, ein normales Leben zu leben. Doch beides schien mir nicht zu gelingen. Es gab mehr freiwillige Blutspender als Ausstattung, deren Blut auch abzunehmen und nichts schien nach diesem unvergesslichen Vormittag angemessen zu sein.

Ich hatte ein komisches Gefühl, im Fernsehen die Horrorszenen zu sehen und trotzdem Hunger zu verspüren; ich empfand einen Hauch von Wut auf dem Weg vom Gebäude des Roten Kreuz zurück zur Wohnung schicke New Yorker in netten Restaurants dinieren zu sehen und verstand es nicht, wie man an einem solchen Tag lachen konnte.

Die Erkenntnis kam später

Andererseits beantwortete ich jeden besorgten Anruf und jedes sich um mich kümmernde email mit den Worten, dass es mir gut geht. Ich war nie unmittelbar vom Attentat gefährdet. Ich realisierte erst am Tag nach dem Attentat, dass ich betroffen war. Im Laufe des Tages wurde immer klarer, dass mein Blut nicht mehr gebraucht wurde. Es wurden nur wenige Menschen aus den Schuttmassen geborgen und fast niemand lebend.

Am späten Nachmittag erhielt das sichere Manhattan präsentiert, dass das World Trade Center und einige benachbarte Gebäude nicht mehr existierten und in Flammen standen. Die Bevölkerung wurde aufgerufen auf Grund der Staub- und Rauchwolke, die nun in Richtung Norden geweht wurde, die Fenster zu schließen und Aufenthalte im Freien zu meiden. Abends wurde verlautbart, dass das Empire State Building wegen eines Bombenalarms evakuiert wurde. Ich hatte große Angst. Erst eine Stunde später wurde Entwarnung gegeben: Ein schlechter Scherz. Falscher Alarm.