Zum Hauptinhalt springen

Identitäres Gewaltpotenzial

Von Jan Michael Marchart und Werner Reisinger

Politik
Bei Razzien fand die deutschePolizei neben Propagandamaterial der Identitären auch verschiedene Waffen. imago images/Martin Müller
© imago images / Martin Müller

Zahlreiche Identitäre besitzen Schusswaffen und wurden wegen Gewaltdelikten verurteilt. Polizeiaktionen, Recherchen und Leaks nicht nur in Österreich zeigen: Eine friedliche, aktionistische Jugendbewegung sind die Identitären mitnichten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. "Gottseidank hab ich schon ne Waffe gekauft, bevor der Asylwahn begonnen hat. Dürfte schwer sein, jetzt noch was Gutes zu bekommen." So lapidar wie rassistisch kommentierte das Gesicht der Identitären Bewegung, Martin Sellner, 2016 den Anstieg der Waffenverkäufe. Im Jahr darauf feuerte er mit einer Schreckschusspistole in einer Wiener U-Bahn-Station mehrere Schüsse ab. Sellner sei von "vermummten Antifaschisten" angegriffen worden, hieß es später. Gegen Sellner wurde ein vorläufiges Waffenverbot verhängt.

Aus Staatsschutz-Ermittlungen geht nun hervor, dass Sellner bei weitem kein Einzelfall ist: Die Identitären und ihr Umkreis sind demnach alles andere als friedfertige Aktivisten, als die sie sich selbst gerne darstellen. Viele von ihnen sind bewaffnet, 32 von ihnen sind wegen diverser Delikte verurteilt worden, darunter schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, Erpressung, Raub - und Wiederbetätigung. Die "Salzburger Nachrichten" und ORF zitierten aus einem Ermittlungsbericht, wonach jeder Fünfte der 364 auf einer Liste der Behörden befindlichen Rechtsextremen legal eine Schusswaffe besitze. Das Arsenal des Kaders reiche von Schrotgewehren, Schlagringen bis hin zu halbautomatischen Schusswaffen. Gegen zehn Identitäre, inklusive Sellner, besteht ein aufrechtes Waffenverbot. Einige Identitäre sollen auch gegen Waffenverbote verstoßen haben. Unter den Finanziers der Rechtsextremen finden sich auch drei FPÖ-Politiker.

Massive Gewalt in Lille

Das Bild, dass sich durch das "Leak" der Identitären-Liste von der "Bewegung" zeigt, deckt sich mit dem in anderen Ländern der europaweit agierenden Identitären. In Frankreich, dem Ursprungsland der rechtsextremen Gruppierung, strebt die Regierung ein Verbot der Identitären an. Diskutiert wird darüber in Paris schon seit 2012.

Im Dezember vergangenen Jahres veröffentlichten Journalisten von Al Jazeera Großbritannien ihre Undercover-Recherchen im nordfranzösischen Lille. Wenn er eine tödliche Krankheit hätte, würde er sich eine Waffe besorgen und ein Attentat auf eine Moschee verüben, sagt einer der gefilmten Identitären in der Dokumentation. Zu sehen sind auch Angriffe auf Passanten. 2017 wurden drei Identitäre aus Lille verhaftet, die einen Mord an einem linken Musiker verübt haben sollen. Sie sollen den Punk auf seinem Heimweg überfallen und in einen Fluss geworfen haben. Zuvor hatten sie die SIM-Karten aus ihren Handys entfernt, um eine Rekonstruktion ihres Aufenthaltsortes zu verhindern. Zuvor waren in Lille bereits zahlreiche andere Identitäre wegen einer Serie von Gewalttaten verurteilt worden. Im April 2018 wurde der Hauptverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen.

In Deutschland pflegen Martin Sellner und sein Mentor, der Verleger, ehemalige Aktivist und "Vordenker" der Rechtsextremen, Götz Kubitschek ("Institut für Staatspolitik"), intensive Verbindungen zur dort aufgebauten identitären "Kontrakultur Halle" und anderen rechtsextremen Zirkeln. 2015 absolvierte Sellner bei Kubitschek eine Art "Praktikum".

Vergangenen Mittwoch durchsuchten Polizei und Verfassungsschutz zahlreiche Objekte in der rechtsextremen und neonazistischen Szene, vorwiegend im Raum Cottbus in Brandenburg. Gefunden wurde nicht nur Propagandamaterial der Identitären und der assoziierten Gruppe "Defend Cottbus", sondern auch Schusswaffen, Messer, Schlagstöcke und andere Waffen. Es geht um Körperverletzungen, Verstöße gegen das Waffengesetz, Sachbeschädigungen, Drohungen und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

Netzwerken im Rhône-Tal

Die Razzia zeigte: Identitäre, organisierte Neonazis und andere gewaltbereite Rechtsextreme aus der Kampfsport- oder Rockerszene arbeiten Hand in Hand. Martin Sellner ist nicht nur führender Kopf der österreichischen Identitären, er ist nach Ansicht zahlreicher Rechtsextremismusexperten auch am intensivsten mit internationaler Vernetzung beschäftigt. Unablässig reist Sellner auch in andere Länder und trifft Gleichgesinnte. Seinen Mentor Kubitschek lernte er, genau wie den Autor und "Intellektuellen" Martin Lichtmesz, bereits 2012 kennen - und zwar in der Kleinstadt Orange im französischen Rhône-Tal. "Wir fahren dorthin, um das Auftreten, die Organisationsform, die Dynamik und die Stoßrichtung des ‚Bloc‘ kennenzulernen und an dem abzugleichen, was wir in Deutschland machen und noch machen könnten", schrieb Kubitschek damals offen auf dem Blog seiner Zeitschrift "Sezession". Für Sellner dürfte der Besuch bei der Tagung des französischen "Bloc Identitaire", einer Art Vorläufer der "Génération Identitaire" und damit der identitären "Bewegung", ein Schlüsselerlebnis gewesen sein. Geladen waren zahlreiche auch internationale Gäste.

Vernetzt sind die Identitären, ob in Deutschland, Österreich oder Frankreich, auch mit den italienischen Neofaschisten von der "Casa Pound". Sellners Mitstreiter Lichtmesz würdigt sie in Kubitscheks "Sezession" als "frischen Wind" für die italienische Rechte. Im Dezember 2011 erschoss in Florenz ein "Casa Pound"-Mitglied drei Menschen, darunter zwei Männer aus dem Senegal. Bevor er sich selbst erschoss, versuchte er noch weitere Menschen zu ermorden. Im März 2018 wiederholte sich Ähnliches im mittelitalienischen Macerata. Ein Mann mit "Casa Pound"-Verbindungen schoss aus seinem fahrenden Auto stundenlang auf Migranten, sieben Menschen wurden schwer verletzt.

BVT-Chef ist "verärgert"

Die meisten österreichischen Identitären besitzen ihre Waffen ganz legal. 68 von ihnen weisen laut dem vorliegenden Leak kriminalpolizeiliche Vermerke wegen des Verdachts einer Straftat auf, 32 wurden rechtskräftig verurteilt, 16 davon wegen Gewaltdelikten.Peter Gridling, Direktor des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), zeigt sich ob des medialen Leaks "verärgert". "Alles, was in der Öffentlichkeit erörtert wird, hilft uns nicht, ist wenig geeignet, um Vertrauen in die Organisation zu erwecken", sagt er. Er macht sich um seine ohnehin schon um das Vertrauen der internationalen Partnerdienste kämpfenden Behörden zusätzliche Sorgen. "Was nun medial zitiert wird, ist alles aus Berichten für die Staatsanwaltschaft", sagt Grilding. Die Grazer Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Martin Sellner.

In Graz betont man, dass auch der BVT-U-Ausschuss über die nun geleakten Dokumente verfügt.