Im Fokus: Zerrissenheit, Identität, Heimat und das irgendwo Ankommen.
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Wien. Vier Porträts, vier Geschichten, fünf Länder - sie haben alle eines gemeinsam: Ihr Lebensmittelpunkt ist in Wien. Vier junge Erwachsene mit Migrationshintergrund erzählen über ihre Zugehörigkeitsgefühle und die Vermischung mehrerer Welten.
Er hört philippinische Rockmusik und liebt den Kampfsport Brasilianisches Jiu-Jitsu. Vic-John Ramos ist einer der insgesamt rund 13.000 Personen philippinischer Herkunft in Österreich. "Familie in beiden Ländern zu haben, ist etwas Schönes", sagt der 26-jährige Krankenpfleger. Mit neun Jahren angekommen, fühlt sich Ramos wohl in Wien und möchte nirgends anders leben. Identitätskonflikte kennt er keine. Nicht zwischen zwei Stühlen, vielmehr auf einem großen Stuhl scheint Ramos zu sitzen.
Reis statt Kartoffeln
Das Philippinische und das Österreichische wurden feinmaschig miteinander verwoben. Ramos konnte sich die Rosinen aus zwei Welten herauspicken. Aufgewachsen in einer großen Patchwork-Familie philippinischer Herkunft, wurden immer schon Brücken zwischen Österreich und den Philippinen geschlagen. Kulinarisch, musikalisch und sprachlich.
Alle Kinder beherrschen Deutsch, Englisch und die philippinische Sprache Tagalog. Bei Familienfeiern wird Karaoke gesungen, mit Vorliebe philippinische Liebeslieder. Auf philippinische Gerichte möchte Ramos nicht verzichten. Müsste er sich zwischen Reis und Kartoffeln entscheiden, er würde Reis wählen.
Die Vermischung der Welten sei ein Leichtes für Ramos gewesen, die Offenheit seines Vaters und seiner Stiefmutter hätten viel dazu beigetragen, auch die Kenntnis der drei Sprachen. Er hatte viele Freiräume, musste keine speziellen Erwartungen erfüllen, die ihn zwischen den Welten zerrissen.
Zwei der Schwestern entschieden sich für Ehemänner mit philippinischen Wurzeln. Eine Erwartung der Eltern? Nein, auch in dieser Hinsicht sei Ramos’ Familie offen. "Ich bin für internationale Liebesbeziehungen", sagt der 26-Jährige. Ein mehr an bikulturellen Beziehungen solle her, denn das sei nur eine Bereicherung für Gesellschaften.
Überall und nirgendwo ganz
Als kleines Kind erlebte Sara Ahmed (Anm.: Name von der Redaktion geändert) Angst und Vertreibung. Die Kurdenverfolgungen im Irak machten sie und ihre Familie zu Flüchtlingen. Sie landeten in Österreich, als sie vier Jahre alt war.
Die 26-jährige Flüchtlingsbetreuerin ist eine von schätzungsweise 100.000 Kurden hierzulande. Sie beherrscht Arabisch, Kurdisch, Englisch und Französisch. Deutsch ist ihre Erstsprache, die Sprache in der sie alles am besten könne, meint sie.
Die Vermischung dieser Welten ist für Ahmed bereichernd, hat sie aber jahrelang aufgerieben. Sie war zerrissen zwischen ihrem Leben in Wien und den Erwartungen ihrer Eltern: Schule, Ausbildung, heiraten und Familie gründen. "Meine Eltern hatten eine sehr geradlinige Vorstellung von meinem Leben", erzählt sie. Ihre innere Zerrissenheit hat sich beruhigt, innerfamiliäre Spannungen haben sich gelegt. Ahmeds Eltern lernten, ihr und ihren Entscheidungen zu vertrauen. Sie akzeptieren, dass Ahmed inzwischen erwachsen ist und ihren eigenen Weg geht.
Die junge, selbstbewusste Frau ist Angekommene und zugleich Behüterin ihrer Familiengeschichte. "Meine kurdische Identität und unsere Geschichte nicht zu vergessen, ist mir sehr wichtig", betont sie. Sollte sie Kinder haben, möchte sie ihnen dieses Bewusstsein weitergeben. In ihrer von Vertreibung geprägten Familiengeschichte sieht sie eine Art Lehrstunde für ein stärkeres Unrechtsbewusstsein. Und das sollen auch ihre Kinder mitnehmen.
Mit Sissi-Filmen ankommen
Angekommene und Flüchtlinge, zerrissen zwischen zwei Stühlen und mehrsprachig aufgewachsen. Das trifft auch auf die heute 33-jährige Mireille Ntwa zu. Sie kam ebenfalls mit vier Jahren nach Österreich. Als politische Aktivisten mussten ihre Eltern vor der Diktatur im ehemaligen Zaire, heute die Demokratische Republik Kongo, fliehen.
Möglichst österreichisch sollte Ntwa aufwachsen, damit sie leichteren gesellschaftlichen Anschluss fände. So die Theorie der Eltern. In der Praxis bedeutete das: Filme zu schauen, die als authentisch österreichisch galten, wie die berühmten Sissi-Filme. Eine intensive Landerkundung in stundenlangen Autofahrten. Die Weitergabe von Französisch und Deutsch, bei Vernachlässigung von Lingala, der Sprache, die im Kongo gesprochenen wird.
Bei der Suche nach der eigenen Zugehörigkeit halfen Ntwa die elterlichen Bemühungen wenig. Das Gegenteil war der Fall: Jahrelang suchte die angehende Gynäkologin verzweifelt nach ihrem Platz zwischen den Welten. "Je mehr ich versucht hab’, zu einer Gruppe dazuzugehören, desto weniger hat das für mich funktioniert", sagt sie.
Hierzulande ist Ntwa eine von rund 800 Personen mit kongolesischen Wurzeln aus der Demokratischen Republik. Mit ihrem tiefschwarzen Haar und ihrer dunklen Haut fühlte sich Ntwa oft allein. Den Erwartungen ihres Vaters an sie als Weibchen am Herd konnte und wollte die bei der SPÖ politisch engagierte und emanzipierte Ntwa nicht entsprechen. Innerfamiliäre Spannungen und Konflikte waren die Folge. Die innere Krise beruhigte sich erst, als Ntwa eine Entscheidung treffen konnte. Heute sagt sie: "Ich bin beides, Österreicherin und Kongolesin." Dass sie erwachsen ist und der Autorität ihrer Eltern entwachsen ist, habe zur Beruhigung beigetragen. Ntwa kennt ihren Weg, und sie verfolgt ihn mit großer Zielstrebigkeit.
Im Guten wie im Schlechten
Er spricht Chewa, Englisch und Deutsch, lebt mittlerweile seit gut 14 Jahren in Österreich und ist einer von wenigen: Der Statistik zufolge leben hierzulande nur 40 Personen malawischer Herkunft, und der 26-jährige Umi Banda (Anm.: Name von der Redaktion geändert) ist einer von ihnen.
An seinen tiefschwarzen Kringellocken und seiner dunklen Hautfarbe störte sich niemals jemand - weder in der Schule noch auf der Universität. "Ich habe immer die richtigen Leute um mich gehabt", sagt er. Deshalb habe er sich seit seinem zwölften Lebensjahr - dem Jahr, als er nach Österreich kam - immer gut integriert gefühlt. Auf seine österreichische Staatsbürgerschaft muss er noch warten.
Die malawische Community in Wien ist sehr klein, bietet kaum soziale Aktivitäten und Treffen an, auf denen man sich vernetzen könnte. Der leidenschaftliche Musiker und Basketballspieler habe sich deshalb sehr schnell integrieren und gesellschaftlichen Anschluss in Österreich finden müssen, erklärt Banda.
Er fühlt sich hier wohl, genießt das sichere Leben in Wien und die internationale Diversität der Stadt. In Malawi liebt er das tropische Klima, das Essen und die freundliche, hilfsbereite Art der Menschen. Identitätskonflikte habe er keine. Er kenne seine Geschichte und wisse, wieso er so weit von seiner Mutter und seinen in Malawi verbliebenen Geschwistern entfernt lebe.
Die Beziehungen zu Malawi ließ Umi Banda nie abreißen. Banda mag beide Welten, im Guten, wie im Schlechten. "Ich kann und will mich nicht entscheiden, zu welcher Gesellschaft oder Community ich mich zugehörig fühle", sagt er. Offensichtlich ist diese Entscheidung für ihn weder belastend, noch notwendig. Er steht zwischen den Welten, ohne dabei aufgerieben zu werden.