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Identitätssuche im "Schaufenster des Sozialismus"

Von Thomas Veser

Politik

Einstmals Zentrum der sowjetischen Schwerindustrie, richtet sich das ostukrainische Donezk in der anhaltenden Wirtschaftskrise stärker denn je am früheren Mythos eines "Schaufensters des Sozialismus" auf. Bei der Suche nach einer eigenen Identität spielen die übrige Ukraine und das benachbarte Russland kaum mehr als eine untergeordnete Rolle.


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Während seine rechte Hand in der Tasche der Arbeiterjoppe steckt, scheint die auf den Boden gerichtete linke Hand mit den ausgestreckten Fingern anzudeuten, dass Fedor Andrejewitsch Sergejew vor der versammelten Arbeiterschaft gleich das Wort ergreifen wird. In dieser Pose verewigten Bildhauer 1967 zum 50jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution in Donezk den populärsten Aktivisten der jungen Sowjetunion: Artjom, wie sich der stiefeltragende Volkstribun und Bergmann nannte, hatte 1905 in Charkiv den ostukrainischen Aufstand organisiert und die Massen 1917 erneut mobilisiert. Später Vorsitzender des Zentralkomitees der Bergarbeitergewerkschaft , verlor diese ideale Verkörperung des Sowjetmenschen, der nicht nur mitreißende Reden hielt, sondern auch bei der Arbeit unter Tage beherzt zupackte, 1921 im Alter von 38 Jahren bei einem Unfall sein Leben.

Seine Bronzestatue, die mit Granitsockel eine Höhe von 10,5 Metern erreicht, dominiert einen der größten Platzanlagen in der 1,2 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt des ostukrainischen Donezbeckens. Solche Flächen, durch breite Verkehrsachsen miteinander verbunden, prägen das Bild des nach dem Zweiten Weltkrieg fast völlig neu und großzügig auf knapp 360 Quadratkilometern angelegten Industriezentrums. Zahlreiche Parks tragen dazu bei, das eintönige Erscheinungsbild dieser funktionalen Stadt etwas aufzulockern.

Rund 700 Kilometer von Kiew entfernt, gehörte das von Plattenbausiedlungen umgebene Zentrum der Industriestadt nie zu den touristischen Attraktionen der Ukraine, selbst in der seriösen Reiseliteratur wird bestenfalls ihre Existenz erwähnt. Dennoch besitzt auch Donezk ein Tourismusbüro, dessen etwas überrascht wirkende Angestellte dem ausländischen Besucher allerdings nur mit verstaubten Prospekten aus den frühen 1980er Jahren dienen können. Sommerliches Markenzeichen der Großstadt, so kann man dort lesen, sind "eine Million Rosen", für deren Anpflanzung und Pflege in jedem Rayon der Innenstadt eine andere Fabrik zuständig ist. Weil die bankrotten Stahl- und Kohlebetriebe dafür jetzt weder Geld noch Personal haben, übernehmen heute Unternehmen der Privatwirtschaft unter mehr oder minder sanftem Druck der Stadtverwaltung diese Aufgabe.

Wenig Bezug zur Ukraine

Keine Großstadt der Ukraine hat sich beharrlicher gegen die Entsowjetisierung gesträubt als Donezk. Stürzten die Bewohner der Westukraine ihre Leninstatuen gleich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Sockel, behauptet das metallene Abbild des Revolutionsführers in Donezk, dessen Bevölkerung zu 60 Prozent aus Russischstämmigen besteht, bis heute den nach wie vor nach ihm benannten Platz. Der einzige Bezug zur Ukraine ist ein nach dem Nationaldichter Taras Schewtschenko benannter Platz.

Donezk geht zurück auf den walisischen Industriellen John Hughes, der vom Zaren 1869 die Erlaubnis erhalten hatte, in der dünn besiedelten und landwirtschaftlich geprägten Gegend Kohle abzubauen und ein erstes Stahlwerk zu gründen. "Jusowska", wie die Bergmannssiedlung getauft wurde, wuchs rasant. Ständig entstanden neue Siedlungen, die fortwährend eingemeindet wurden, 1917 erhielt der Ort, der mit seinen unbefestigten Straßen und allgegenwärtigen Kühen noch stark ländlich wirkte, das Stadtrecht. Jusowska, das 1924 in Stalino umbenannt wurde, übernahm nach der Revolution eine ökonomische Schlüsselrolle. "Der Donbass, das ist nicht irgendein Rayon, sondern das ist der Rayon, ohne den der sozialistische Aufbau ein schlichter guter Wunsch bleibt", gab Lenin damals bekannt.

Keinen Landesteil unterwarf die Sowjetmacht zügiger und rücksichtsloser der Zwangskollektivierung, die Hungersnot 1932/33 traf das Donezk-Becken besonders hart. Fast die gesamte regionale Elite fiel den Stalinschen Säuberungswellen zum Opfer, ihre Angehörigen wurden systematisch durch Russen ersetzt. Aber auch auf andere Teile der Sowjetunion und des Ostens übte der Donbass als attraktive Einwanderungsregion eine starke Anziehungskraft aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg zum "Schaufenster des Sozialismus" verklärt, entwickelte sich Stalino, das 1961 nach einem Nebenfluss des Don umbenannt wurde, zu einer Vielvölkerstadt.

Niedergang in den 70ern

Flossen noch in den 1950er Jahren rund 85 Prozent aller Investitionen in die Schwerindustrie in den Donbass, nahm Moskaus Interesse an der östlichen Ukraine seit den 1970er Jahren spürbar ab. Man konzentrierte sich auf Sibirien und Kasachstan, denn dort konnte das schwarze Gold im Tagebau leichter und billiger gefördert werden.

Seit den 1980er Jahren äußerte sich der Unmut der Bewohner über die schlechter werdenden Lebensbedingungen immer häufiger in spontanen und länger anhaltenden Bergarbeiterstreiks, die nicht politische, sondern ökonomische Ursachen hatten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollte die Streikwelle nicht mehr abreißen. Selbst Ärzte, Krankenpfleger, Lehrer und das Eisenbahnpersonal traten in den Ausstand. Als die Ukraine 1991 selbständig wurde, erwiesen sich die veralteten Industriestrukturen als größter Erblast, es setzte eine jahrelang anhaltende Phase des wirtschaftlichen Niedergangs ein. Die viertgrößte ukrainische Stadt, dessen Einwohnerzahl 1979 die Ein-Millionen-Marke überschritten hatte, büßte ihre einstige Attraktivität ein, wie die zunehmende Zahl leer stehender Wohnungen verdeutlicht. Massenarbeitslosigkeit, Verarmung und Drogenprobleme prägen den städtischen Alltag. Im peinlich sauberen Zentrum spürt man davon wenig, auf Spuren des Zerfalls stößt man vornehmlich in den peripheren Bergarbeitersiedlungen, deren Bewohner schon seit Jahren von der Wasser- und Gasversorgung abgeschnitten sind.

Und so mag es nicht überraschen, dass viele Donezker der jüngeren Vergangenheit nachtrauern. Während Kiew historische Wurzeln besitzt und sich im Erscheinungsbild allmählich westlichen Großstädten annähert, haben sich die Einwohner des kaum 100 Jahre alte Donezk nach Einschätzung der Frankfurter Ukrainistin Kerstin Müller seit dem Zerfall der Sowjetunion von der übrigen Ukraine abgeschottet und lassen zunehmend den "sowjetischen Mythos des Donbass als Schaufenster des Sozialismus" wiederaufleben.

Industrielle Oberschicht

Dieser Identifikationswunsch beziehe sich weder auf die Ukraine noch auf Russland, sondern primär auf die Donbass-Region. Die städtischen Machteliten, die mittlerweile Wirtschaft, politische Prozesse und nahezu alle gesellschaftlichen Organisationen kontrollieren, hätten diese Tendenz seit über einem Jahrzehnt kräftig gefördert und sich auf diese Weise die Sympathie der Bevölkerung erworben. Seit Gründung der Stadt haben die Bewohner Kerstin Müllers Worten zufolge stets nur eine einzige, aus der industriellen Oberschicht und den politischen Akteuren bestehenden Machtstruktur gekannt. Sie war auch für den Betrieb aller öffentlichen Einrichtungen verantwortlich. Dieses Monopol erweise sich nun als entscheidende Blockade für die Modernisierung der Region. In keiner Stadt der Ukraine leben mehr Oligarchen als in Donezk und ihr zunehmender Einfluss auf die nationale Politik lässt sich seit zwei Jahren nicht mehr übersehen. Zum Milieu des "Donezker Clans" zählt auch der ehemalige Gouverneur unf geschlagene Präsidentschaftskandidat Viktor Janukowitsch.

Bisweilen führt die angestrengte Suche nach regionalen Identifikationsmöglichkeiten zu skurrilen Ergebnissen. Eine Donezker Stiftung namens "Solotoi Skif" hat die Skythen, eine Sammelbezeichnung für die einst im nördlichen Schwarzmeergebiet lebenden Nomadenstämme, entdeckt. Als Ziel betreibt die Stiftung offiziell die "Förderung der Popularität des Donbass".