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Peking - Es war ein Abschied mit Pomp. Chinas Staats- und Parteichef Jiang Zemin hat mit seinem ordentlichen Rücktritt ein beruhigendes Signal gesetzt und dennoch recht sorgenvoll sein schweres Erbe der "vierten Generation" der Kommunistischen Partei auf die Schultern gelegt. Es sind, wie Jiang selbst, durchweg Reformer, und sie sind mit den wachsenden Problemen des bevölkerungsreichsten Landes der Welt vertraut. Die chinesischen Kommunisten sind von der reinen Lehre längst zum astreinen Pragmatismus übergegangen. Dies hat der 16. Parteitag in der Vorwoche nur verfassungsmäßig anerkannt.
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Jiang Zemin, von dem gemunkelt wird, dass er noch gerne weitere fünf Jahre im Amt geblieben wäre, hat seinen Zöglingen noch eine kahle Theorie der "Drei Vertretungen" mit auf den Weg gegeben - jedes Schulkind in China muss sie auswendig lernen: Die Partei ist nicht mehr die Vorhut der Arbeiterklasse, sondern sie vertritt das ganze chinesische Volk als Führerin. Die Partei repräsentiert die fortschrittlichen Produktionskräfte und die fortschrittliche Kultur.
Unter der Hand wird die windungsreiche Theorie manchmal verlacht, sie rettet aber nur dasjenige ins marxistische Begriffsreich hinüber, was in der Praxis seit den 80-er Jahren Ziel der KP ist: Wirtschaftliche Öffnung, Privatinitiative unter staatlichem Anreiz und Kontrolle. Nur die "fortschrittliche Kultur" ist auf der Strecke geblieben, im Asphalt des Tienamen-Platzes fand sie ihren himmlischen Frieden.
Die Öffnung hat indes nicht nur die demokratischen Hoffnungen das Leben gekostet, sondern sie kostet tagtäglich Arbeitsplätze. Sichere Jobs und die "eiserne Reisschüssel" sind in China längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Weit über 100 Millionen Chinesen sind arbeitslos, Tendenz steigend. In den Städten sind es schon über 11 Millionen. Und jährlich drängen 10 Millionen neu auf den Arbeitsmarkt. Einige Millionen verwöhnter und talentierter junger Leute sind an den Universitäten geparkt; auch sie werden eines Tages ihre Ansprüche erheben, was Jobs betrifft, und vielleicht auch, was die Politik betrifft.
Es gibt jetzt noch 43.000 Staatsbetriebe. Ihre Effizienz wurde dramatisch gesteigert: Erwirtschafteten sie 1989 10 Mrd. US-Dollar, so sind es heute 29 Mrd. Dollar. Zu bewerkstelligen war das aber nur durch Massenentlassungen. 24 Millionen Chinesen verloren dabei seit 1997 ihren Arbeitsplatz, 4 Millionen allein bei der Eisenbahn, 660.000 in der staatlichen Ölfirma, 250.000 im staatlichen Bankensektor. Inzwischen tragen Staatsbetriebe nur noch knapp 40 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. 1998 musste extra ein staatliches Programm für die Staatsentlassenen gestartet werden, es hat bis heute 36 Mrd. Dollar gekostet. Trotz eines Wiederbeschäftigungsprogramms finden immer weniger von ihnen wieder Arbeit: 1999 waren es noch 50 Prozent, im Jahr darauf nur mehr 43. 700.000 konnte im Vorjahr die Unterstützung gar nicht mehr ausbezahlt werden. Auch 500.000 Pensionisten warteten vergeblich auf ihre Rente. Soziale Unruhen blieben nicht aus, am schlimmsten war es im "Ruhrgebiet Chinas", in der Provinz Liaoning im Nordosten des Landes. Kommunistische Polizisten mussten auf demonstrierende kommunistische Arbeiter einprügeln. Das Arbeitsministerium warnte im Mai, dass die Zahl der städtischen Arbeitslosen sich in den nächsten Jahren auf 20 Millionen verdoppeln könnte. Die machen Angst.
Hoffnung am privaten Sektor
Der Anteil des Privatsektors am BIP stieg in den vergangenen fünf Jahren von 20 auf 60 Prozent. So schuf Privatinitiative, vor allem im Dienstleistungsbereich, heuer im 1. Halbjahr rund ein Drittel der neuen Jobs. Es gibt mittlerweile 25 Millionen Privatunternehmen, allein im Vorjahr sind 2 Millionen hinzugekommen. Weniger Überblick hat man über die neuen Millionäre; geschätzte 10.000 Unternehmer kommen immerhin über die 10-Mill.-Euro-Marke.
Dennoch waren die Privaten in der Vergangenheit benachteiligt, wie etwa bei der Kreditvergabe durch die staatlichen Banken, private Banken und Versicherungen gab es nicht. Das soll sich jetzt ändern. Bei der Pachtvergabe musste geschmiert werden, der Erwerb von Grund und Boden bleibt bis auf weiteres gesperrt. Dafür können sich ausländische Anleger an Staatsbetrieben beteiligen, Privatfirmen sollen sich künftig auch durch Aktien finanzieren dürfen. Der chinesische Kommunismus rüstet sich für den Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO.
Gemischte Sicht auf dieWTO
Die Aussichten auf den Weltmarkt verlocken die chinesischen Führer allerdings nicht nur zu Jubelrufen: Das meiste Kopfzerbrechen macht ihnen der Überlebenskampf der 900 Millionen Bauern und Landarbeiter - wohin werden sie gehen, wenn der Markt etwa von billigem US-Weizen, Genmais oder - Reis - überschwemmt wird? Während die Sonderwirtschaftszonen, Industriezentren und Großstädte boomen und sich das Einkommen der Staatsbeamten in den vergangenen Jahren nahezu verdoppelt hat, hat sich die Lage der Menschen auf dem Land kaum verbessert. Das durchschnittliche Wachstum betrug im Vorjahr mit 4,2 Prozent nur die Hälfte von jenem in den Metropolen. In vielen Regionen, das musste selbst der zurückgetretene Regierungschef zugeben, sind die Lebensbedingungen sogar drastisch schlechter geworden. Wer von den Anbauprodukten nicht mehr leben kann, wandert in die Städte ab, jährlich 8 Millionen, heißt es. Nicht nur ist die Steuerquote auf dem Land dreimal so hoch wie in den Städten, auch die Korruption blüht nirgends so gut wie in den ländlichen Kommunen. Staatliche Zuschüsse versickern. Den Bauern bleiben in der Folge zu wenig Mittel für Investitionen, oft nicht einmal für Fahrzeuge, um ihre Produkte auf den nächsten Markt bringen zu können. Oft reichen auch die gewährten Anbauflächen kaum aus, um über die Subsitenz hinauszukommen. Auch das Bildungsniveau auf dem Land sinkt dramatisch. Immer weniger Chinesen in den abgelegenen Regionen können sich ein Studium leisten, die Drop-out-Rate hat mit 8,5 Prozent einen Rekordwert erreicht. Man kann von den zwei China sprechen, ohne dass damit unbedingt auch Taiwan gemeint sein muss.
Kritik an der KP-Führung wird längst schon nicht mehr hüstelnd geäußert. Neben Arbeiter- und Bauernprotesten gibt es liberale wie auch konservative Stimmen, die die Zustände anprangern. Pflegten die Medien indes nicht ohnedies vieles höflich unter den Tisch fallen zu lassen, so braucht sich Jiang Zemin nun gar nicht mehr zu ärgern: Der Weg, auf dem er China ein gutes Stück weitergebracht hat, ist in der Partei unumstritten. Und für alle Fälle bleibt er ja Oberbefehlshaber der Streitkräfte.