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Ideologie statt Pragmatismus

Von Reinhard Heinisch

Reflexionen

Zeit für eine Zwischenbilanz im US-Wahlkampf: Präsident Obama hat viele Trümpfe in seiner Hand, trotzdem wird das Rennen um das Weiße Haus bis zuletzt offen und spannend bleiben.


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Die Vorwahlen sind vorüber, die Positionen sind abgesteckt und auch die Rahmenbedingungen scheinen fest zu stehen. Knapp fünf Monate vor den US-Präsidentenwahlen ist es nun an der Zeit, über die politische Ausgangslage und den derzeitigen Wahlkampf eine Zwischenbilanz zu ziehen. Fest steht, dass der gegenwärtige Präsident schwächelt und um seine Wiederwahl fürchten muss. Fest steht aber auch, dass sein Gegner Mitt Romney aus den Vorwahlen angeschlagen hervorging. Es stehen sich also ein beschädigter Präsident und ein eher matter Herausforderer gegenüber, der seinerseits mit zahlreichen Problemen zu kämpfen hat.

Undankbare Politik

Gewiss hat Obama viele enttäuscht und wurde außerdem ein Opfer übergroßer Erwartungen, die nicht zuletzt er selbst geweckt hatte. Dennoch zeigt sein Schicksal auch, wie undankbar Politik sein kann. Denn ihm sind gewiss weder die globale Finanzkrise noch die zwei Kriege (im Irak und Afghanistan) anzulasten, die die USA zehn Jahre lang nur mit großer Mühe aufrechterhielt. Immerhin kann sich der Präsident zugute halten, den nationalen Erzfeind Nummer 1, Osama Bin Laden, und zahlreiche seiner Unterführer zur Strecke gebracht, einen globalen Kollaps des Finanz- und Bankensystems verhindert, sowie die US-amerikanische Autoindustrie mehr oder weniger im Alleingang gerettet zu haben.

Außerdem gelang dem Präsidenten das Jahrhundertprojekt, als erster US-Regierungschef ein nationales Krankenversicherungssystem geschaffen zu haben, das nun sogar vom Obersten Gerichtshof nach zahlreichen Anfechtungen zur Überraschung vieler für verfassungskonform erklärt wurde.

Trotz dieser Erfolge wird die Wahl für Obama zur Zitterpartie, da die Wirtschaft partout nicht durchstarten will. Zwar zeigte sich im vergangenen Spätherbst und Winter wie auch im Jahr zu zuvor ein Hoffnungsschimmer, dass die Konjunktur endlich anzuspringen schien und die Arbeitslosigkeit deutlich zurückging.

Doch binnen kurzer Zeit fing der Wirtschaftsmotor wieder zu stottern an und die Arbeitslosigkeit stagniert weiter auf hohem Niveau, sodass die Gegner Obamas die triste Wirtschaftslage als Hauptzielrichtung im Wahlkampf verwenden werden können. Im Gegensatz zu den kummergewöhnten Europäern sind die US-Amerikaner verwöhnt davon, in der Vergangenheit nach kurzen Wirtschabschwüngen jeweils wieder rasch und eindrucksvoll durchgestartet zu sein. Die nun schon über drei Jahre andauernde Rezession nagt sehr am amerikanischen Selbstwertgefühl und vermischt sich mit zunehmenden Zweifeln am US-amerikanischen Modell sowie Fragen des nationalen Abstieges.

Nice guy, wrong vision

Dies spielt natürlich in die Hände der Republikaner: Romneys Strategie wird hier ähnlich sein, wie seinerzeit jene von Ronald Reagan, der über Jimmy Carter abschätzig meinte, dass dieser zwar ein netter Kerl sei, aber hoffnungslos überfordert und glücklos. Romney wird anders als die rechtspopulistische Tea Party-Bewegung kein Interesse daran haben, Amerikas ersten schwarzen Präsidenten als Krypto-Moslem, Halbafrikaner oder Salonsozialisten zu brandmarken, sondern ihn eher als "nice guy but with the wrong vision for America" darstellen sowie als jemanden, der nur versprechen, aber nichts umsetzten kann.

Internationalen Beobachtern der amerikanischen Politik sollte zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass die Präsidentenwahlen kein gesamtstaatliches Votum sind, wobei ein Kandidat eine nationale Stimmenmehrheit auf sich vereinen muss, sondern dass es sich um 50 Einzelwahlen in den jeweiligen Gliedstaaten handelt, wobei jeder von diesen eine bestimmte Anzahl von Wahlmännern zu vergeben hat. So erreichte etwa Kandidat Al Gore im Jahr 2000 bundesweit mehr Stimmen als George Bush - und verlor bekanntlich dennoch die Wahl. Präsident wird nämlich jener Kandidat, der so viele Gliedstaaten auf sich vereinigt, dass deren Wahlmänner zusammengenommen die magische Zahl von mindestens 270 ergeben.

Die "Swing States"

Nun gibt es verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, wie ein Kandidat auf diese 270 Wahlmänner kommen kann. Zum einen sind die meisten Staaten ohnehin bereits dem einen oder anderen Lager zuzurechnen, wobei der Süden fast vollständig in republikanischer Hand ist, also Romney-Territorium, und die Küstengegenden - allen voran Kalifornien - immer demokratisch votieren.

Zählt man die Wahlmänner dieser quasi feststehenden Wahlmänner zusammen, so gelangt man auf eine jeweils beträchtliche Anzahl. Nun gilt es quasi die Differenz auf 270 wettzumachen. Die Staaten, die somit noch nicht fix einem Lager zuzurechnen sind, die sogenannten "Swing States", gelten somit als der "Battle-ground", auf den sich der Wahlkampf der ganzen Nation konzentriert. Für jeden dieser Staaten gibt es bestimmte Strategien, wie man gerade so viele unentschlossene Wähler politisch zu sich ziehen kann, dass eine knappe Mehrheit entsteht und somit der ganze Staat ins eigene Lager kippt - beim Mehrheitswahlrecht gewinnt ja jener Kandidat alle Wahlmänner, der eine relative Mehrheit an Stimmen auf sich vereinen kann.

Natürlich sind nicht alle Swing States gleich unentschlossen, sondern neigen mehr in die eine oder andere Richtung. Somit müssen die Wahlstrategen ihre begrenzten finanziellen Mittel taktisch klug einsetzen, indem sie versuchen, mit einem Minimum an Mitteln ein Maximum an Wirkung zu erzielen. Nach gegenwärtigen Berechnungen liegt Obama bei den Wahlmännern immer noch klar vor Romney, das heißt, Obama hat mehrere Optionen auf 270 Wahlmänner und könnte sogar den Totalausfall von einigen Staaten verkraften, die ihm jetzt zugeschrieben werden, und hätte dennoch die Möglichkeit, auf die erforderliche Anzahl von Wahlmännern zu kommen.

Romney dagegen, will er eine Chance haben, muss fast alle Staaten gewinnen, die ihm fix zugeschrieben werden, sowie alle jene, die republikanisch tendieren, und auch einige, in denen Obama bisher sehr stark war. Besondere Bedeutung kommt hier Staaten wie Ohio, Pennsylvania oder Wisconsin zu. Diese großen Industriestaaten wählen zwar in der Regel demokratisch, jedoch wurden sie durch die Wirtschaftskrise hart getroffen und weisen eine etwas konservativer eingestellte, weil eher ältere Bevölkerung auf. Außerdem steht deren etwas provinziell-orientierte Bevölkerung dem ersten schwarzen Präsidenten samt seiner ungewöhnlichen Biografie bisher eher skeptisch gegenüber. Ohio ist der Gradmesser der US-amerikanischen Politik schlecht hin - "As goes Ohio, so goes the nation!" besagt ein bekanntes Sprichwort.

Aus diesem Grund wird Romney nicht müde werden, das Thema Wirtschaft zu betonen und seine eigene Erfahrung als erfolgreicher Geschäftsmann, Investor und Manager hervorzuheben. Viele andere Optionen bleiben dem etwas spröde wirkenden ehemaligen Gouverneur aus Massachusetts nicht. Denn beim Thema nationale Sicherheit, sonst eine Stärke der Republikaner, kann Obama besonders punkten; immerhin ist er es, der die Truppen nun sukzessive aus den beiden Kriegen heimholt und außenpolitische Erfolge, wie etwa Libyen, vorweisen kann.

Heikles Thema Religion

Auch das Thema Religion, an sich Teil des Standardrepertoires eines Republikaners, ist für Romney keine einfache Materie, da er Mormone ist und somit einer Gruppe angehört, die für viele Evangelikale der republikanischen Basis einen seltsamen Kult darstellt. Beim Thema Immigration und Schwulen-Heirat, also in Bereichen, die der Rechten gerne zur Mobilisierung der eigenen Basis dienen, konnte der Präsident im Juni einen politischen Coup landen, indem er bei öffentlichen Auftritten Zeichen setzte und Maßnahmen ergriff, die nicht nur diese nicht unwesentlichen Gruppen für ihn eher positiv einstimmten, sondern auch von einer breiteren Öffentlichkeit goutiert wurden. Im Gegensatz dazu vermochte Romney mit diesen Themen nur sehr verlegen umzugehen, wissend, dass vor allem die große und stetig wachsende Gruppe der Latinos in einigen Staaten bereits wahlentscheidend sein kann - vor allem im Süden, den der Republikaner auf alle Fälle gewinnen muss, will er anderswo überhaupt eine Chance haben.

Die zunehmende Hispanisierung der Vereinigten Staaten ist für die Republikaner so etwas wie eine tickende Zeitbombe, wobei die Latinos als Wählergruppe jenseits der 50 Millionen-Größe einen schlafenden Riesen darstellen, der durch Aussagen und diskriminierende Gesetzesinitiativen republikanischer Politiker allmählich mobilisiert wird. Dies könnte einerseits einen Wahlerfolg der Rechten in bisher stramm konservativen Staaten wie Arizona erschweren und in Schlüsselstaaten wie Florida den Demokraten den Sieg einbringen. Zeigt sich der Republikaner, dessen Vater sogar in Mexiko geboren wurde, bei der Immigrationspolitik als zu liberal, kommt er mit der eigenen Basis in politische Schwierigkeiten, daher sind alle Aussagen Romneys hier eine gefährliche Gratwanderung für ihn.

Auch das Thema Gesundheitsreform ("Obama-care") ist für den Republikaner keine problemfreie Materie, denn immerhin war es ausgerechnet Gouverneur Romney, der in seiner Amtszeit in Massachusetts auf Landesebene genau so eine umfassende Krankenversicherung verwirklichte, die Obama schließlich sogar als Vorbild diente. Dabei eignet sich dieses Thema vorzüglich, um gegen den Präsidenten Stellung zu beziehen, immerhin lehnen über zwei Drittel der Bevölkerung die Reform ab, da viele nicht zu einer Versicherung gezwungen werden wollen und außerdem für ihre bestehende Gesundheitsvorsorge höhere Kosten und mehr Staatseinfluss befürchten.

Macht Romney zu viele politische Purzelbäume und distanziert sich zu stark von früheren eigenen Positionen, etwa von seiner eher liberalen Politik als Gouverneur oder seiner eher konservativen Rhetorik im Vorwahlkampf, verstärkt dies nur den ohnehin bestehenden Eindruck, prinzi-pienlos zu sein und seine Fahne gerne nach dem Wind zu drehen.

Obamas Vorteile

Tatsächlich hat ein wahlkämpfender Präsident viele Trümpfe in seiner Hand. Mit der Macht seines Amtes und der der medialen Aufmerksamkeit, die ein Mann im Weißen Haus nun einmal hat, kann dieser viel stärker Akzente setzen und das Gesetz des Handelns an sich reißen. Der Präsident ist auch als Person längt vollkommen definiert, das heißt, es sind keine peinlichen Enthüllungen zu erwarten und die Menschen haben sich längst eine feste Meinung über ihn gebildet. Er genießt quasi einen hundertprozentigen Bekanntheitsgrad - und ist natürlich auch besser als sein Rivale mit den komplexen Details der Amtsgeschäfte vertraut.

Obama ist obendrein noch ein blendender Redner, der, wie Umfragen immer wieder zeigen, persönlich bei den meisten Amerikanern, vor allem bei Frauen, recht beliebt ist. Romney gilt dagegen als etwas steif und mit dem Charisma eines Autoverkäufers ausgestattet. Da er anfangs besonders bei der sehr großen Gruppe von im Berufsleben stehenden Frauen sehr schlecht ankam, schickte man Romney’s Ehefrau vor, die wesentlich besser verstand, sich auf Menschen und besonders Wählerinnen einzustellen, um für ihren Mann zu werben.

Längst haben die beiden Kontrahenten im Wahlkampf sehr konträre Rollenpositionen bezogen, wobei beide hoffen, aus der Komplementarität Vorteile zu ziehen. In Wahrheit sind sich Obama und Romney eigentlich relativ ähnlich. Beide haben eine Ausbildung an derselben Elitekaderschmiede Harvard genossen und neigen dazu, analytisch vorzugehen und sich dabei auf harte Fakten und Zahlen zu verlassen. Beide sind dafür bekannt, die Dinge eher nüchtern und emotionslos zu betrachten, was ihnen mitunter Kritik einbringt, zu wenig Mitgefühl zu besitzen und zu professoral zu agieren. Beide Politiker sind daher auch ihrer jeweiligen Basis etwas suspekt, da sie dazu tendieren, bisweilen undogmatisch und zu wenig ideologisch zu agieren. Versuche beider, im Wahlkampf Emotion und Drama vorzutäuschen, führten immer wieder zu Kritik, vor allem bei Romney, nicht authentisch genug zu sein. Beide Kandidaten buhlen auch um dieselbe Wählergruppe der Unentschlossenen und Wechselwähler in der Mitte des Spektrums.

In Summe könnte man daher schließen, dass Obama wohl trotz allem einem sicheren Sieg entgegensteuert. Dass dem nicht so ist, belegt einmal mehr die Verwundbarkeit des Präsidenten beim Thema Wirtschaft und Arbeitslosigkeit. Immerhin war in den letzten Jahrzehnten kein Präsident mit so schlechten Wirtschaftsdaten wiedergewählt worden. Des Weiteren dürfte Romney auch über einen beträchtlichen finanziellen Vorteil verfügen. Zwar ist auch Obama ein Meister dabei, Wahlkampfspenden einzutreiben, und hat als Amtsinhaber auch die Ressourcen des Staatsapparats auf seiner Seite, dennoch dürfte die Gegenseite beim Thema Geld die Nase vorne haben. Da auf Seiten der Republikaner eine größere Anzahl an Milliardären und Konzerninteressen steht, fällt dort das Lukrieren entsprechender Gelder leichter.

Noch lange spannend

In der Regel verwenden Kandidaten die selbst eingetriebenen Spendengelder zur eigenen positiven Vermarkung, während das "soft money" von diversen Interessensgruppen, Unternehmen und reichen Einzelpersonen dazu benützt werden, Angriffe auf den Gegner zu starten. Aufgrund der bisher angesammelten Summen darf angenommen werden, dass dem Land eine noch nie dagewesene Schmutzkübelkampagne in der finalen Wahlkampfphase bevorsteht. Der republikanische Vorwahlkampf hat ja diesbezüglich bereits einen Vorgeschmack geliefert, als Romney mit seinen wesentlich größeren Ressourcen einen erfolgreichen Herausforderer nach dem anderen aus dem Rennen werfen konnte.

Die Intensivphase des Wahlkampfes wird im Hochsommer mit den zwei großen Parteikongressen beginnen, von denen sich beide Kandidaten eine Dynamik versprechen, die bis zu den TV-Konfrontationen im September und Oktober anhalten sollte. Diese sind vor allem für den Amtsinhaber gefährlich, da von diesem erwartet wird, den Herausforderer souverän auf Distanz zu halten. Gleichzeitig wertet der TV-Auftritt den Herausforderer symbolisch auf, da dieser erstmals auf einer Ebene mit dem Präsidenten auf der Bühne steht.

Für politische Beobachter verspricht das Rennen noch lange offen und spannend zu bleiben, wobei sich die USA einmal mehr als ideologisch polarisiertes und zutiefst gespaltenes Land präsentieren. Überhaupt ist vielleicht jener Umstand am bemerkenswertesten, dass just zu einem Zeitpunkt, da Europa zunehmend entideologisiert wird, im stets für seinen Pragmatismus und seine Ideologieferne bekannten Amerika Ideologien und politische Ideen einen derartigen Aufschwung erleben.

Reinhard Heinisch, geboren 1963 in Klagenfurt, war viele Jahre lang Professor für Political Science an der University of Pittsburgh und ist seit 2009 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.