Zum Hauptinhalt springen

Ideologie tritt in den Hintergrund

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Am 18. Oktober beginnt der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Am kommenden Sonntag finden die Wahlen zum Deutschen Bundestag statt, also die Parlamentswahlen im größten und wirtschaftlich stärksten Land der EU. Drei Wochen später, nämlich am 15. Oktober 2017, finden die Nationalratswahlen in Österreich statt, bei denen entschieden wird, ob und wie Österreich den alles in allem bewährten Weg einer stabilen und um Fairness bemühten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung fortsetzt.

Und drei Tage nach der österreichischen Nationalratswahl, also am 18. Oktober, beginnt ein drittes interessantes, politisches Ereignis, dem wir - wahlkampfbedingt - weniger Aufmerksamkeit widmen, obwohl ihm globale Bedeutung zukommt, nämlich der 19. Parteitag der KP Chinas, der Staatspartei des bevölkerungsreichsten Landes der Welt.

Immerhin hat China derzeit knapp mehr als 1400 Millionen Einwohner, das sind circa 170 Mal so viele Einwohner, wie in Österreich leben, oder mehr Einwohner als die USA, die EU, Russland, Japan, Brasilien, Kanada und Australien zusammen haben.

Atemberaubende Dynamikin der Entwicklung

China, seine uralte Kultur, seine Landschaften, seine Menschen und seine Politik haben mich immer schon interessiert. Meine erste Chinareise habe ich 1974 (wenige Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Österreich und der Volksrepublik China) gemeinsam mit meiner Frau unternommen.

Das war noch zu Lebzeiten von Mao Tse Tung und in der Endphase der Kulturrevolution. Die Menschen waren einheitlich gekleidet (Mao-Look), in den Straßen sah man nur Fahrräder und von Tieren gezogene Karren, aber kaum Autos. Man begegnete nur sehr selten Europäern und sogar die große Mauer war fast frei von Touristen - was man sich alles heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann.

Ich habe seither in regelmäßigen Abständen China besucht und in der Zeit vom 7. bis 17. September in meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Österreichisch-Chinesischen Gesellschaft meine bisher zehnte Chinareise absolviert. Das Entwicklungstempo und die Dynamik dieses Landes sind atemberaubend. Diese Entwicklungsdynamik geht zunächst auf die Reformpolitik von Teng Hsiao Ping zurück, der die chinesische Wirtschaft von vielen ideologischen und sonstigen Fesseln befreit hat, und wurde von seinen Nachfolgern an der Spitze von Staat und Partei - trotz des Rückschlages durch die tragischen Ereignisse am Tian’anmen Platz im Sommer 1989 - fortgesetzt.

Der jetzige Staats- und Parteichef (genauer gesagt Partei- und Staatschef) Xi Jinping hat sich in den fünf Jahren seit seiner Wahl eine besonders starke Stellung erarbeitet und wird ganz offiziell als "Kern der Partei" bezeichnet. Alles deutet darauf hin, dass er seine Stellung beim Parteitag noch weiter festigen wird.

Von den 25 Mitgliedern des Politbüros der KPC wird bei der Neuwahl voraussichtlich nahezu die Hälfte der bisherigen Mitglieder ausscheiden und durch neue Politbüromitglieder ersetzt werden, auf deren Auswahl Xi Jinping natürlich beträchtlichen Einfluss hat. Von den sieben Mitgliedern des "Ständigen Ausschusses des Politbüros", dem eigentlichen Machtzentrum Chinas, werden mit Sicherheit nur Xi selbst, sowie Ministerpräsident Li Keqiang bleiben und zumindest vier (vielleicht sogar auch fünf) der bisherigen Mitglieder ausscheiden und ersetzt werden. Obwohl Xi ein Staats- und Parteiführer ist, der in manchen Bereichen stärker auf Mao Tse Tung Bezug nimmt als seine unmittelbaren Vorgänger, ist es doch so, dass die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung Chinas Eigengesetzlichkeiten entwickelt und auch den "chinesischen Kommunismus" durchdringt und verändert. Die Bedeutung und Symbolik des Satzes von Teng Hsiao Ping, der zur Rolle der kommunistischen Ideologie in Bezug auf die chinesische Wirtschaft gesagt hat: "Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist - Hauptsache, sie fängt Mäuse", kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

China wird von ideologischen Pragmatikern geführt und das hat zur Folge, dass die Ideologie zwar weiter existiert, aber die konkreten Entscheidungen sich an wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Zielsetzungen orientieren.

Am Tian’anmen Platz, im Zentrum Pekings, hat es jahrzehntelang Porträts von Marx, Engels, Lenin und Mao gegeben. Heute hängt dort nur noch ein Porträt von Mao. Während jener zehn Tage, die ich gerade in Peking und Shanghai sowie in Süd- und Südwestchina unterwegs war, habe ich keine einzige kommunistische Fahne gesehen und an Häuserwänden, wo früher die berühmten ideologisch aufgeladenen Wandzeitungen affichiert wurden, findet man jetzt Werbetexte und Plakate westlichen Stils.

Chinas KP sieht sich als Erbin von Maos Revolution

Man muss allerdings hinzufügen, dass die KP Chinas eben nicht mit europäischen Parteien verglichen werden kann. Schon allein deshalb, weil China kein Parteienstaat ist und nie war. Die 1921 gegründete KP Chinas war eine soziale und nationale Freiheitsbewegung, die zunächst Seite an Seite mit Chiang Kai-sheks Kuomintang vor allem gegen japanische Aggressoren und für die Modernisierung Chinas kämpfte.

Nach der Niederlage des gemeinsamen Außenfeindes Japan im Zweiten Weltkrieg kam es zum entscheidenden Bürgerkrieg zwischen Chiang Kai-shek und Mao, den Mao siegreich beendete. Chiang Kai-shek zog sich nach Formosa (Taiwan) zurück und die KPC wurde zur "Staatsmacht". Sie ist es über all die dramatischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der vergangenen 70 Jahre hinweg bis heute geblieben. Sie betrachtet sich als Erbin der Revolution von Mao, hat dieses Erbe aber verändert und weiterentwickelt.

War China nach der Gründung der Volksrepublik im Oktober 1949 auf der Landkarte des Welthandels praktisch nicht existent, ist China heute weltweit das größte Exportland, das zweitgrößte Importland und beim Austausch von Dienstleistungen an dritter Stelle. Der Anteil Chinas am weltweiten BNP (Bruttonationalprodukt) zu Kaufkraftparitäten ist von 1990 bis heute von 6 Prozent auf 16,5 Prozent gestiegen, während der Anteil der USA im gleichen Zeitraum von 32,2 auf 14,3 Prozent zurückgegangen ist. China liegt damit derzeit - was das BNP betrifft - knapp vor den USA und Kopf an Kopf mit der EU.

Für Österreich ist China heute das Exportland Nummer fünf, außerhalb Europas das Exportland Nummer zwei und in Asien das Exportland Nummer eins. Unser Handelsvolumen liegt über 11 Milliarden Euro.

Das alles sind gute Gründe, einem Parteitag, bei dem im bevölkerungsreichsten Land der Welt personelle und politische Weichen gestellt werden, Aufmerksamkeit zu widmen.

Gastkommentar

Heinz Fischer

wurde 1938 in Graz geboren. Von 2004 bis 2016 war er österreichischer Bundespräsident. Davor war er ab 1971 Nationalratsabgeordneter der SPÖ (ab 1975 Klubobmann), von 1983 bis 1987 Wissenschaftsminister und von 1990 bis 2004 zunächst Erster und dann Zweiter Nationalratspräsident. Sein nächster Gastkommentar in der "Wiener Zeitung" erscheint am 19. Oktober.