Die Demokratie ist in Gefahr - bedroht nicht nur vom Rechtsradikalismus und Neoliberalismus, sondern offenbar auch von der Mutlosigkeit der Polit-Elite.
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Seit Beginn der Flüchtlingsbewegung im Sommer 2015 leistet die Volkshilfe Flüchtlingsarbeit in Österreich. Seit einiger Zeit sind wir auch in Griechenland aktiv. Um gesellschaftliche Bedingungen zu ändern, braucht es neben dem konkreten Handeln aber auch den politischen Protest. Deshalb habe ich im Herbst 2015 das große Solidaritätskonzert "Voices for Refugees" auf dem Wiener Heldenplatz initiiert. Bei einer Dauer von sieben Stunden waren in Summe mehr als 200.000 Menschen vor Ort, die ein Zeichen gesetzt und ihre Stimmen für eine menschliche Asylpolitik in ganz Europa erhoben haben.
Heute, einige Monate später, müssen wir dabei zusehen, wie Asylgesetze verschärft werden, die gute Tradition Österreichs im Umgang mit Schutzsuchenden einfach über Bord geworfen wird und tausende Kinder vor den geschlossenen Toren Europas weinen. In Zelten, im Freien, am Boden, ohne entsprechende Kleidung und ausreichende Versorgung sitzen tausende Schutzsuchende im Morast fest und warten. Das nordgriechische Flüchtlingslager Idomeni ist der Kristallisationspunkt europäischer Unmenschlichkeit.
Jeden Tag steigertsich die Inhumanität
Innerhalb der vergangenen Monate war ich dreimal in Idomeni, um vor Ort die Nothilfsaktion der Volkshilfe Österreich zu organisieren. Als mitfühlender Mensch bekommt man angesichts der Situation vor Ort unweigerlich dieses Gefühl zwischen Verzweiflung, Empörung und Hilfe. Was haben diese Menschen alles erleiden müssen: Krieg und drohender Tod, der zum Fliehen zwingt. Flucht, die gefährlich ist und das Leben kosten kann. Sie sind unterversorgt und haben wenig Perspektive vor den kilometerlangen, messerscharfen Zäunen.
Man fragt sich: Wenn Regierungen diese Menschen nicht einlassen, um sie zu retten, warum versorgen sie diese nicht hier entsprechend und ausreichend? Wir sehen eine Kettenreaktion der Unmenschlichkeit und Verantwortungslosigkeit.
Die Verantwortung für diese humanitäre Katastrophe tragen die Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, die nicht bereit sind, Menschen aufzunehmen, und gleichzeitig Flüchtlinge als Feindbilder konstruieren. Jeden Tag steigert sich die Inhumanität im Denken und Handeln. Die Dosis des menschenverachtenden Giftes wird erhöht, mit dem Ziel, das soziale Empfinden, Denken und Handeln zu schwächen. "Die Menschen werden mit Polizeigewalt aufgehalten werden müssen", meinte Österreichs Außenminister Sebastien Kurz. Diese Außenpolitik ist menschenverachtend und kann den Tod von Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen zur Folge haben, ja nimmt ihn faktisch in Kauf. Eine empathielose Politik, die sich ausschließlich an empathiebefreite Menschen richtet. Wer die Grenzen schließt und den Menschen vor Ort nicht hilft, hat Leid, Hunger und Tod zu verantworten.
Europa rückt zusammen?
Europa rückt zusammen, wenn es darum geht, den Finanzmarkt und Banken zu retten. Die Regierungschefs trafen sich im Wochentakt, um eine Finanzspritze nach der anderen zu beschließen. Bankenrettungsschirme in Milliardenhöhe wurden aufgespannt, als gäbe es keine Alternative zur Sozialisierung der Spekulationsverluste des Finanzmarktes. Die Gewinne hingegen werden weiterhin privatisiert.
Europa rückt zusammen: Jetzt, wo die Budgets der europäischen Staatskassen leergeräumt sind, werden von den Regierungschefs die Sozialausgaben gekürzt. Die europäische Gemeinsamkeit liegt in der Austeritätspolitik, Disziplin und Härte beim Sozialabbau.
Europa rückt zusammen, wenn es darum geht, Schutzsuchende abzuwehren. Als Gewinner dieses Wettbewerbes fühlen sich jene, denen es gelingt, so wenigen Menschen wie möglich Asyl zu gewähren.
Europa rückt zusammen im gemeinsamen Abbau der Menschenrechte und der sozialen Freiheit.
Europa rückt aber nicht zusammen, wenn es darum geht, Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden, aufzunehmen. Wenn es darum geht, den Krieg zu beenden. Wenn es darum geht, Flüchtlinge zu versorgen, in Jordanien, im Libanon oder anderswo.
Die Flüchtlingszahlen sind nur Symptom einer globalen Spirale
Europa ist heute so tief gespalten wie unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Es herrscht ein Klima der Verunsicherung, der Angst und Hoffnungslosigkeit. 60 Millionen Armutsbetroffene und 22 Millionen Arbeitslose führen einen täglichen Existenzkampf, während die Lebensbedingungen der Mittelschicht erodieren. Die Demokratie ist zur Makulatur verkommen, zum Schauspiel, um vor eklatant wachsender Ungleichheit abzulenken. Das ist das Europa, das die Flüchtenden vorfinden, wenn sie es denn überhaupt (lebendig) erreichen. Und dieses Europa voller Abstiegsangst und Unsicherheit heißt sie nicht willkommen.
Doch das Problem sitzt tiefer. Denn die steigenden Flüchtlingszahlen sind im Endeffekt nur das Symptom einer weltumspannenden Spirale aus Armut, Hoffnungslosigkeit, Krieg, Reichtum und Machtgier. Der kapitalistischen Ökonomie und ihren Eliten ist es gelungen, einen von der Politik legitimierten Raubzug zu führen. 62 Menschen haben so viel Vermögen angehäuft wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Ein einziger superreicher Mensch besitzt so viel wie 59 Millionen Menschen. Während die Reicheren um 44 Prozent reicher wurden, ist die Hälfte der Bevölkerung um 41 Prozent ärmer geworden. Armut, Hunger, Ausbeutung und die aufgegebene Hoffnung, dass die Realpolitik eine Verbesserung der Lebensbedingungen bringt - im Westen bekannt als "Politikverdrossenheit" -, verleiten Menschen dazu, sich rechtspopulistischen oder religiösen Heilsbotschaften auszuliefern - die Folge sind Nationalismus, Fanatismus, Krieg und Terror.
Wir können gar nichts stoppen, ohne unsere Werte zu verraten
Jede politische Phrase von einem Stopp der Flüchtlingsbewegung ist eine Illusion und Täuschung. Wir können hier gar nichts stoppen, wollen wir nicht alles, wofür wir stehen und was uns teuer ist, verraten. Zu unser aller Entsetzen geschieht nun genau das: Das Menschenrecht auf Asyl wird de facto abgeschafft. Die überforderte, angstgeleitete Regierung konstruiert einen Notstand, um per Notfallsverordnungen regieren zu können. Bei jedem aufrechten Demokraten müssen schon längst sämtliche Alarmglocken läuten. Denn die Demokratie ist in Gefahr - bedroht nicht nur vom Rechtsradikalismus und Neoliberalismus, sondern offenbar auch von der Mutlosigkeit der etablierten Polit-Elite.
Wir sind Zeugen eines Multi-Organversagens der Politik. Denn wir erleben keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität. Viele Nationalstaaten drücken sich vor ihrer Verantwortung und haben sich von den humanitären Werten verabschiedet. Gelebte Solidarität würde aber neben der Aufnahme von Flüchtlingen auch eine Erhöhung der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, wirksame Hilfe vor Ort und ein Ende des Waffenexports in Krisenländer bedeuten.
An vielen europäischen Grenzen werden gerade Barrieren gebaut. Europa zäunt sich ein. Doch egal wie lang, welches Material und welche Bezeichnung: Grenzzäune sind die falsche Antwort auf eine falsche Frage. Es geht nicht darum, wie wir die Flüchtlingsbewegung beenden können. Das ist nur langfristig mit einem Bündel von politischen Maßnahmen möglich. Jetzt geht es darum, wie wir diese Herausforderung bewältigen und für eine positive Weiterentwicklung unserer Gesellschaft nutzen können.
Ein Weg der Menschlichkeit und Solidarität
Es gibt einen Lichtblick jenseits der Angst und des politischen Scheiterns: Die Zivilgesellschaft organisiert sich selbst, nimmt die Probleme selbst in die Hand. Aus Hilfe wird Protest gegen die Unmenschlichkeit, gegen das Versagen des Staates. Wir leben also auch in einer Zeit des Aufbruchs: Die Refugee-Bewegung ist entstanden. Diese neue Refugee-Bewegung und viele andere progressive Initiativen der Zivilgesellschaft bestärken unsere Haltung.
Sie zeigen auch der Politik einen neuen Weg auf. Einen Weg jenseits der Angst. Einen Weg der Menschlichkeit und der Solidarität. Dieses Reservoir der Humanität gilt es anzuzapfen. Denn es ist nachhaltiger als die Angst und zukunftsträchtiger als der Hass. Die momentane Krise bietet uns eine einmalige Chance, um uns weiterzuentwickeln. Wir sollten diese Chance nicht ungenutzt an uns vorüberziehen lassen. Noch ist es nicht zu spät.
Eine soziale, gerechte Welt ist möglich.
Als fühlender Mensch bekommt man in Idomeni angesichts der Situation vor Ort unweigerlich dieses Gefühl zwischen Verzweiflung, Empörung und Hilfe.