Nach Armenien-Resolution erhalten deutsche Abgeordnete türkischer Abstammung Morddrohungen.
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Berlin. Özcan Mutlu macht sich ernsthaft Sorgen. Der 48-jährige Bundestagsabgeordnete erhält Morddrohungen, seit er am Donnerstag im Parlament in Berlin für den Antrag "Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916" stimmte. Gemeinsam mit zehn anderen Parlamentariern mit türkischen Wurzeln steht Mutlu auf einem Steckbrief, der in Zeitungen und im Internet kursiert. Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Klubs - Konservative, Sozialdemokraten, Grüne und Linke - sind betroffen.
Deutschland ist bei weitem nicht das erste Land, das den Genozid an den Armeniern anerkannte. Doch die offizielle Türkei will von einem Völkermord nach wie vor nicht nur nichts hören: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan greift nun auch deutsche Politiker wie Mutlu an - und im Internet wird gehetzt. "Da kommt ein Besserwisser und bereitet etwas vor, das er dem deutschen Parlament vorschlägt", sagte Erdogan auf einer Veranstaltung in Istanbul über den Chef der deutschen Grünen Cem Özdemir. Dieser hatte die Armenien-Resolution mitinitiiert. "Ein Türke, sagen manche. Ach was, Türke. Ihr Blut sollte einem Labortest unterzogen werden. Ihr Blut ist unrein." Die deutschen Abgeordneten seien der "verlängerte Arm der Terroristen".
Damit meinte Erdogan die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Es ist die gleiche Rhetorik, die Erdogan auch gegen unliebsame regierungskritische Journalisten und Politiker verwendet. Auch aufgrund des Vorwurfs, Mitglied einer "terroristischen Vereinigung" zu sein, wurden die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül festgenommen und Anfang Mai zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
"Wir werden die Anschuldigung eines Völkermordes niemals akzeptieren", wiederholte Erdogan. Deutschland sei "das letzte Land", das über einen "sogenannten Völkermord" der Türkei abstimmen solle. "He Deutschland, Leg erst mal Rechenschaft ab für den Holocaust, leg erst mal Rechenschaft darüber ab, wie du in Namibia 100.000 Menschen umgebracht hast", zitiert die "Welt" den türkischen Präsidenten.
"Kein Fingerzeig"
Bei der Debatte im deutschen Parlament am Donnerstag hob unter anderem Mitinitiator Özdemir in seiner Rede hervor, dass es nicht um einen "Fingerzeig" gehe. Deutschland beanspruche keine "moralische Hoheit". "Wir bringen diesen Antrag gerade nicht ein, weil wir uns moralisch überlegen fühlen oder uns in fremde Angelegenheiten einmischen wollen - sondern, weil es bei diesem Text eben auch um ein Stück deutsche Geschichte geht." Das Deutsche Reich wollte die Türkei im Ersten Weltkrieg unbedingt an seiner Seite halten. Verbrechen am sogenannten "inneren Feind" - wie der Innenminister und spätere Regierungschef Mehmet Talât Pascha die Armenier nannte - wurden toleriert.
Bis auf eine CDU-Abgeordnete, die mit "Nein" stimmte, und einen CDU-Abgeordneten, der sich der Stimme enthielt, sprachen sich alle anwesenden Mitglieder des Bundestages für die Armenien-Resolution aus. Kanzlerin Merkel ließ sich entschuldigen, Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) fehlten ebenfalls. Warum Merkel es nicht geschafft habe, ihre eigene Partei von einem "Nein" zu überzeugen, verstehe er nicht, polterte Erdogan. Der türkische Präsident kennt es üblicherweise selbst nicht anders, als dass ihm seine Mannschaft ohne Widerrede folgt. Zudem behauptete er, die Kanzlerin habe ihm ein "Nein" zugesichert. Die deutsche Regierungsspitze reagierte unaufgeregt auf den wütenden Präsidenten. Sprecher Steffen Seibert richtete am Montag aus, das Parlament treffe "souveräne" Entscheidungen. "In diesem Sinne hat die Bundeskanzlerin auch ihre Gespräche mit dem türkischen Staatspräsidenten geführt."
Erdogans undiplomatische Äußerungen dürften ohnehin eher die Türkei und weniger Deutschland im Blick gehabt haben. Seine lautstarken Anfeindungen dienten dem Präsidenten dazu, sich als mächtiger Mann zu präsentieren - den Europa noch dazu braucht. Doch auch wenn die EU in der Flüchtlingsfrage auf die Türkei als Partner setzt: Nach wie vor ist die Türkei vor allem wirtschaftlich stark auf Europa und ganz besonders auf Deutschland angewiesen. "Mit einem kumulierten Investitionsvolumen von über 12 Milliarden Euro seit 1980 ist Deutschland auch der größte ausländische Investor", heißt es vom Auswärtigen Amt in Berlin. Und die fast drei Millionen in Deutschland lebenden Menschen türkischer Herkunft - von denen etwas mehr als die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen - seien "ein bedeutender Faktor in den bilateralen Beziehungen".
"Haben Sie Sorge, dass die türkische Gemeinschaft hier in Deutschland das Vertrauen in die deutsche Gesellschaft und Politik verlieren wird?", wurde denn auch Außenminister Steinmeier zwei Tage vor der Abstimmung in Berlin von einem türkischen Korrespondenten gefragt. "Eindeutiges Nein", antwortete der Minister. Die Haltung jener Menschen, die über zwei, drei Generationen in Deutschland leben würden, lasse sich nicht durch eine einzige Entscheidung im Parlament grundlegend beeinflussen. Der Interessensverband "Türkische Gemeinde in Deutschland" sieht das anders und spricht von einer "negativen Beeinflussung der Beziehungen zwischen Deutschen und Deutsch-Türken". Von den Entgleisungen aus der Türkei distanzierte man sich aber: "Morddrohungen und Bluttestforderungen finden wir abscheulich", so der Bundesvorsitzende des Verbandes, Gökay Sofuoglu. "Irgendwelche durchgeknallten Verrückten", die Erdogan zuhörten, könnten dessen Worte als Aufruf verstehen, fürchtet indes der Grün-Abgeordnete Mutlu. So seien bereits viele Menschen in der Türkei zu Tode gekommen.
Hintergrund: Armenischer Genozid 1915