Ode an ein eigensinniges Inselvolk - und was man weniger toll finden kann.
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London. Gerade, dass für die Briten der Begriff "Europa" alles beinhaltet außer die eigene Heimat, macht die Insel für Bewohner des restlichen Kontinents so interessant - und liebenswert. Und wer sagt, dass in Europa alles über einen Kamm geschoren werden muss? Für die, die den Weg über den Ärmelkanal wagen, wären Engländer nicht Engländer, wenn es die als "schrullig" belächelten Eigenarten nicht gäbe.
Also: Es lebe der Links- und Kreisverkehr, der dreipolige Stecker, die eigenartigen Längen- und Gewichtsmaße und die viel zu frühe Sperrstunde im Pub. Hoch sollen sie leben, alle diese Klischee-Versatzstücke, die allgegenwärtig sind: die doppelstöckigen Autobusse, die endlosen Reihen an identen Redbrick-Häusern, Baked Beans, das disziplinierte Schlangestehen. Auch den Schuluniformen kann man etwas abgewinnen: Sie verkörpern Strenge - das gefällt den eher konservativen Geistern. Die Marxisten können sich trösten, dass hier ein Schritt auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft vollzogen wurde: Die teure Marken-Jeans muss zuhause bleiben. Und last, but not least: Was wäre Kontinentaleuropa ohne den britischen Humor - auch wenn John Cleese, Frontmann der legendären Monty Pythons, ein Brexit-Befürworter ist?
Ein Wermutstropfen, dass England auf manchem Gebiet nicht mehr das ist, was ältere Semester in ihrer Jugendzeit kennengelernt haben: Das Bier ist hier längst nicht mehr warm, der Kaffee ist gut. Das, was in Londons stylischen Bars serviert wird, braucht den Vergleich mit Italien nicht mehr zu scheuen. Überhaupt wird man kulinarisch landauf und landab bestens versorgt. Der nichtssagende Klumpen Fleisch mit weichgekochtem Gemüse und Minzsauce oben drauf als einzige Alternative gehört der Vergangenheit an. Den Essig im Ketchup und die fettigen Fish n’ Chips gibt es freilich immer noch - zum Glück, möchte man sagen.
Bleibt noch, die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Insulaner zu rühmen. Wer sich etwa mit Kinderwagen durch das altertümliche Londoner U-Bahn-System quälen muss, der kann sich vor "helpful people", die mit Rat und Tat bereit stehen und notfalls auch selber anpacken, kaum erwehren. Die Wiener zumindest agieren hier in ihrer Heimatstadt zurückhaltender. Und auch das muss gesagt sein: Nirgendwo finden die Menschen schneller und unkomplizierter zueinander, nirgendwo sind Alters- und Klassenschranken so gründlich außer Kraft gesetzt wie im klassischen englischen Pub. Das gilt zu Fußball-EM-Zeiten in besonderem Maße. Dass die Briten auch in politischen Belangen gerne abseits stehen, haben sie in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen - was das eigensinnige Inselvolk nicht unsympatischer macht. Wobei das unterkühlte Temperament, das den Engländern zugeschrieben wird, bei näherem Hinschauen ins Reich der Legenden verbannt werden kann. So hat niemand Geringerer als König Heinrich VIII. allein der heißen Liebe wegen dem Papst den Rücken gekehrt, eine eigene Kirche gegründet, die Scheidung eingereicht und mit Anne Boleyn die Dame seiner Wahl geehelicht. Dass er nebenbei den katholischen Kirchenbesitz der englischen Krone einverleibt hat, steht auf einem anderen Blatt.
Und wo stünde Kontinentaleuropa heute, wenn man in London nicht stets ein Auge darauf gehabt hätte, dass dort keine Macht zu mächtig wird - nicht die Franzosen, nicht die Russen und die Preußen schon gar nicht. Unvergessen auch Winston Churchill, der Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg grimmig die Stirn bot, mit dem typisch flachen Stahlhelm durch das zerstörte London stapfte, den Menschen Mut machte und schließlich an der Befreiung des Kontinents vom Nazi-Terror maßgeblich beteiligt war. Außerdem muss man zugeben, dass das Thema "Integration" in Großbritannien anders als etwa in Frankreich, ja und leider auch in Österreich, abgehandelt wird. Hier sind schwarze Bobbys an jeder Straßenecke zu sehen, die Busfahrer tragen allerorts Turbane und rassisitsche Äußerungen werden streng geahndet.
Blicke in Abgründe
Wo viel Licht, da viel Schatten: Genau das, was Großbritannien so einzigartig macht, birgt den Keim für allerlei Übel. Die immer noch mit feierlichem Ernst eingeläutete Pub-Sperrstunde um 22.50 Uhr etwa sorgt dafür, dass sich besonnene "very helpful people" in einer Geschwindigkeit, die man nicht für möglich halten würde, in torkelnde Berserker verwandeln. Dass die gefürchteten britischen Hooligans in schöner Regelmäßigkeit ganze Fußballstadien auseinandernehmen, ist eine weitere Schattenseite der britischen "politeness". Es kann durchaus vorkommen, dass der, der sich am Vormittag entschuldigt, obwohl er selbst angerempelt wurde, der ist, der am Abend die Faust ausfährt, ohne dass er nur schief angeschaut worden wäre. Und das gemütliche, im britischen Großmuttter-Stil eingerichtete Pub wird dann nicht selten zum Schlachtfeld.
Nichts gegen die typisch britische Liebe zur Tradition, nichts gegen die altertümlich gewandeten Beefeater im Tower von London. Auch den mit turmhohen Bärenfellen bemützten Garden gebührt jede Ehre. Ihre zweifellos ruhmreiche Geschichte verführt viele Briten aber zu einer Haltung, die man als chauvinistisch bezeichnen muss. Bewegt man sich am "Bank Holiday", einem Feiertag im Mai, durch mittelenglische Kleinstädte, begegnet man ganzen Kohorten von Männern in Uniformen aus dem Zweiten Weltkrieg; zu spät Gekommene, die lautstark den Sieg über Nazi-Deutschland nachfeiern, flankiert von ihren Frauen, die die gleiche Frisur tragen wie ihre Großmütter im vergilbten Familienalbum.
Dass sich hier die, die Großbritannien wieder "groß" machen wollen, die sich isolieren und die von einem einigen Europa wenig halten, besonders wohlfühlen, ist klar. Auch der fallweise vorhandene britische Hang zum Egalitären kann nicht nur positiv gesehen werden. Auf der Insel ist zwar so gut wie jeder "Landlord" oder "Landlady" und verfügt somit über sein eigenens Haus. Ein solides castle ist das aber noch lange nicht. Ein strenger Winter wird in den hastig zusammengezimmerten, zugigen Bauwerken zum Problem. Die typischen Spannteppiche im Badezimmer, die unpraktischen ovalen Türklinken und die getrennten Heiß-kalt-Wasserhähne an den Waschbecken sind ebenfalls hinterfragenswerte Details britischer Gemütlichkeit. Und noch eine Bemerkung zur eingangs gelobten, vortrefflichen britischen Küche: Dass man dafür - wie übrigens für vieles andere auch - so enorm tief in die Tasche greifen muss, das tut weh.