Die Jesidin Lamiya Aji Bashar wurde von der Terrormiliz Islamischer Staat verschleppt und versklavt. Heute setzt sie sich für die Rechte ihres Volkes ein.
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Wien. Stoisch beobachtet Lamiya Aji Bashar das Geschehen. Sie sitzt in einer Ecke auf der Galerie im Vorraum des Gartenbaukinos. Um sie herum wuseln hippe Gestalten mit Weingläsern, Kameras und Smartphones. Sie ignorieren die junge Frau mit dem vernarbten Gesicht. Es ist Donnertagabend. In wenigen Minuten wird das Menschenrechtsfilmfestival "This Human World" festlich eröffnet. Zu diesem Anlass wird Bashar eine Rede halten. Sie, die Jesidin, die verschleppt, vergewaltigt und versklavt wurde von den Männern der Terrormiliz Islamischer Staat, wartet nun deplatziert inmitten von Wiens zurechtgemachter Bohème auf ihren Auftritt.
Doch es scheint der 18-Jährigen egal zu sein. Dass sie nicht Teil dieses Glitzer-Kosmos ist. Dass sie ignoriert wird. Dass sie irgendwo in der Ecke sitzt, wo sie keiner sieht oder versteht, der nicht ihre Muttersprache, Kurmandschi, spricht.
Sie hat einen Auftrag. Sie muss ihre Geschichte erzählen. Wie die Welt im Sommer 2014 plötzlich auf sie hereinbrach, als der IS ihr Dorf Kojo im Nordirak angegriffen hat. Wie sie verschleppt und verkauft wurde. Immer und immer wieder. Wie sie versucht hat zu fliehen. Und dafür bestraft wurde. "Ich hoffe, dass niemand auf dieser Welt so etwas erleben muss. Lasst es nicht zu, dass solche Dinge wieder passieren!" Mit lauter bestimmter Stimme schleudert sie dem Publikum ihren Appell von der Bühne entgegen. Betroffen schluckt die Bohème das mitgebrachte Bier hinunter.
"Ich bin froh, dass mir jemand zuhört", sagt sie später im Gespräch mit der "Wiener Zeitung." Sie weiß nicht, wie oft sie diesen Appell bereits losgeschickt hat. Doch hat er sie zu dem gemacht, was sie heute ist: eine Menschenrechtsaktivistin, der am 14. Dezember vom EU-Parlament der Sacharow-Preis für geistige Freiheit verliehen wird. Sie gilt neben ihrer Verwandten und Co-Preisträgerin Nadia Murad Basee, ihres Zeichen mittlerweile UN-Sonderbotschafterin, als Stimme der Jesiden, die sich lautstark mit ihren Biografien gegen den Genozid an ihrem Volk einsetzen.
Eine Frau mit abgehackten Füßen hat keinen Wert
Einst eine unbekannte religiöse Minderheit innerhalb der kurdischen Community, sind die Jesiden spätestens seit dem 3. August 2014 in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerutscht. Damals griff der IS ihr Hauptsiedlungsgebiet im Norden des Iraks an. Tausende Menschen flohen in die baumlosen Berghänge des Sinjar-Gebirges und harrten dort tagelang ohne Wasser, Lebensmittel und Medikamente aus. Die Bilder gingen um die Welt.
Wenig später folgten die ersten Horrornachrichten von enthaupteten Männern und verschleppten Frauen, die auf Sklavenmärkten und via WhatsApp-Gruppen online unter den Terroristen wie Vieh verkauft wurden. Rund 5000 Frauen und Kinder wurden damals entführt. Bashar war eine von ihnen. Acht Monate lang war sie in Gefangenschaft. Fünf Mal wurde sie in dieser Zeit weiterverkauft. Vier Mal hat sie versucht zu fliehen. Nach ihrem letzten Fluchtversuch wollte man ihr dafür die Füße abhacken. Ihr "Besitzer" entschied sich dagegen. Eine Frau mit abgehackten Füßen würde keinen guten Preise am Markt erzielen, so die ökonomische Begründung. Im April 2015 gelang ihr schließlich mit zwei Mitgefangenen die Flucht. Ihre Gefährtinnen kamen dabei bei der Explosion einer Landmine ums Leben. Bashar überlebte schwer verletzt. Auf dem rechten Auge ist sie seither blind.
Ihr Übersetzer Mirza Dinnayi übernimmt im Schnelldurchlauf das Abspulen ihrer biografischen Eckdaten. Er ist Sprecher der NGO "Luftbrücke Irak", die sich dafür einsetzt, kriegsverletzte Kinder und Terroropfer wie Bashar in Deutschland zu behandeln. Er ist Dolmetscher und Bashars Betreuer. Immer wieder spricht er von dem "kleinen Mädchen aus dem Dorf", das doch nichts von der großen Welt verstehen würden, wenn man nach Bashars eigener Agenda und Zukunftsvision fragt. Für ihn ist sie ein Poster-Girl für die jesidische Sache. Und ihr Trauma ein Mittel, diese in der Weltöffentlichkeit am Leben zu erhalten.
Dinnayi weiß, was die Presse interessiert und wie kurz die Aufmerksamkeitsspanne westlicher Mehrheitsgesellschaften ist. Frau, Opfer, Sexsklavin, Genozidüberlebende. Man ist bereit, den westlichen Voyeurismus zu bedienen, um sein Anliegen anzubringen. Seit Monaten lobbyiert die NGO in ganz Europa dafür, dass jesidische IS-Überlebende in den einzelnen Ländern Zuflucht finden. In Baden-Württemberg hat der Ministerpräsident ein Sonderkontingent von 1100 Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufgenommen. Andere Länder sollen diesem Beispiel folgen, so der Wunsch.
Österreich soll 300 IS-Überlebende aufnehmen
Von Österreich erhofft man sich nun eine Zusage von 300 Personen. "Ich habe die große Hoffnung, dass Ihr Bundeskanzler etwas für uns tun kann", sagt Lamiya Aji Bashar. Eine Stunde hat sie sich mit Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) unterhalten. Er habe ihr versprochen, dass er sich die Sache genau anschauen werde.
Bashar ist optimistisch. Sie weiß um ihre Verantwortung. Binnen weniger Monate in Deutschland scheint sie die Mechanismen des Polit- und Medienzirkus begriffen zu haben. Dass sie nur mit dem Exponieren ihrer eigenen Geschichte ihrem Volk helfen kann.
Knapp 3000 Frauen und Kinder sind noch in IS-Gefangenschaft. Die Welt weiß von ihnen. Und tut nichts. Lamiya Aji Bashar will sie nicht im Stich lassen. Zu lange haben sie die Worte ihrer Peiniger begleitet. "Wir haben die Jesiden vernichtet", haben die Männer damals gesagt. Bashar verschränkt die Arme vor der Brust. "Und ich sage ihnen heute: Ihr könnt uns nicht vernichten."