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"Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod"

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare

Das Selbstmordattentat in Moskau steigerte die Qualität der Maximierung des Grauens durch den Einsatz einer "Splitterbombe", die 35 Menschen tötete und mindestens 170 verletzte. Die offensichtliche Absicht: möglichst schwere Verstümmelungen, damit die Gräueltat lange als Besatzungsmacht im öffentlichen Bewusstsein wirkt. Wie üblich nähren Entsetzen und Hilflosigkeit die weltweiten Reaktionen: feiger Gewaltakt auf Unschuldige.


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Dieses Attentat entspricht der neuen Qualität des Terrors, die erstmals mit 9/11 in New York Grauen verbreitet hat: nicht mehr selektiver Terror gegen Personen oder Dinge, sondern Angriffe, die den Verlust an Menschen und Material maximieren - so im Zentrum New Yorks mit 3000 Toten. Nicht anders 2004 die tückisch synchronisierten Anschläge auf Pendlerzüge in Madrid - 192 Tote und 2051 Verletzte. Ein islamistisches Bekennerschreiben behauptete programmatisch: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod!" Sieben mutmaßliche Täter sprengten sich vier Wochen später in die Luft, als sie in eine Polizeirazzia gerieten. Dann 2005 in London die Attentate von "Rucksackbombern" auf öffentliche Verkehrsmittel - 56 Tote und 700 Verletzte.

Das Attentat in Moskau überbot nun diese Qualität des Horrors noch. Die Selbstmörder schmuggelten sich in die Menge vor der Gepäcksausgabe, ihre mit Metallstücken geladene Bombe sollte noch schlimmere Verletzungen anrichten als "übliche" Sprengkörper. Der sichtlich erschütterte Präsident Dmitri Medwedew führte das im TV auf laxe Überwachung des Flughafens durch die Polizei zurück. Jene Polizei, die sonst bei jeder Regung von Protest sofort aus dem Boden wächst?

Die Hintermänner dieses Verbrechens können sich die Hände reiben: Die spektakuläre Überraschung an einem neuralgischen Punkt hat gesessen und bewiesen, dass nicht einmal ein Polizeistaat ausreichenden Schutz bietet. Natürlich ortet der Kreml eine Verschwörung kaukasischer Islamisten. Die Öffentlichkeit braucht eben einen Täter, selbst wenn vorerst Spekulationen wie Placebos verabreicht werden.

Vieles spricht für einen islamistisch motivierten Terrorakt. Einem selbstmörderischen "Märtyrer" winkt nämlich das Paradies, also braucht er keinen irdischen Nachruhm, und selbst die Todesstrafe schreckt ihn nicht ab. Er ist der Exekutor am Ende einer langen Kette von Verschwörern, die Tarnung, Planung und Logistik besorgen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Terrorismus muss sich niemand um den Rückzug des Attentäters kümmern. Die Drahtzieher gewinnen einen beträchtlichen Vorsprung an Zeit und Raum vor den Fahndern. Als psychologisch beabsichtigter Nebeneffekt verängstigt maximaler Schaden: Der Schlag zielt nicht mehr selektiv auf Personen, er kann mich in Ballungsräumen treffen.

Natürlich ist das irrational. Terrorakte bedürfen einer langen konspirativen Vorbereitung, und selbst Al Kaida ist außer Stande, alle paar Wochen terroristische Blutbäder zu inszenieren.

Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".