. . . auf der Erde die Zeitmessung. Physiker Harald Lesch zum Jahreswechsel über die Ultra-Beschleunigung der Gegenwart.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Ihr am 17. Jänner erscheinendes Buch "Ein Physiker und eine Philosophin spielen mit der Zeit" dreht sich um Abläufe in Quantenmechanik und Kosmologie. Womit hat die Zeit begonnen?
Harald Lesch: Zeit ist nichts für sich. So lange keiner darüber gesprochen hat, hat sich die Zeit keine Gedanken über sich gemacht. Das fing erst an, als ein reflektierendes Hirn begann, sich zu wundern. Das Wundern über Phänomene, die periodenhaft auftauchen, machte die Zeit greifbar. Vorher war sie zwar auch da - als kosmische Zeit, weil sich das Universum seit dem Urknall auseinanderbewegt und somit immer größer und kälter wird. Sie könnten eine ganz unmenschliche Zeit definieren anhand der Temperatur des Kosmos. Aber was uns interessiert, ist eine Wahrnehmung von Regelmäßigkeit, die quasi einen Kalender präsentiert, wann ich etwas tun sollte. Wann gehe ich auf die Jagd, beginne zu säen? Dass sich Regelmäßigkeit am Himmel spiegelt, war eine große Entdeckungen der Menschheit.
Seit wann messen wir Zeit?
Die Menschen begannen mit Himmelsuhren wie Mond, Sonne und Sterne. Astronomen hatten viel Macht, weil sie wussten, wann sich die Jahreszeiten ändern. Am Äquator ist das Wetter eintönig. Aber in Gebieten mit regelmäßigen Jahreszeiten entstanden Hochkulturen. Zudem führte diese Regelmäßigkeit zu der wundervollen Erkenntnis, dass das Gute immer wieder kommt. Die Sonne geht morgens auf - das ist die erste Form von Gottvertrauen. Ein Vertrauen in das, was kommt, gibt auch das Gefühl, dass etwas vergangen ist - auch das ist eine große Entdeckung. Alle Hochkulturen suchten außerdem, Wasser zu beherrschen, und stellten dazu Berechnungen der Jahreszeiten an. So kam die Astronomie zur Mathematik und zu dem Versuch, die Zeit in Form einer Uhr zu domestizieren. Heute schauen Sie auf Ihr Handgelenk.
Oder auf das Handy. Heute messen wir die Zeit nicht in Sternen, sondern mit Atomuhren. Sind Atome eine ewige Angelegenheit?
Das Problem mit der Präzision hatte man schon immer. Wer im 18. Jahrhundert auf See zur richtigen Ortsposition kommen wollte, musste die Abfahrtszeit genau kennen. James Cook nahm auf seinen Reisen die ersten mechanischen Uhren, genannt Harrison-Chronografen, mit. Sie konnten aber die erste Längengrad-Bestimmung vornehmen. Im 20. Jahrhundert haben wir uns angewöhnt, Lebensäußerungen zu objektivieren. Wir gingen weg von subjektiven Einschätzungen und bedienten uns Maßeinheiten. Längen messen wir nicht mit der Elle des Bundeskanzlers, sondern mit Laser-Anlagen. Von Atomen wird die größte Objektivität erwartet, weil sie ganz von selbst ihre Elektronen abregen und dabei eine bestimmte Frequenz abgeben. Das ist die Präzision, mit der wir Positionen vermessen. Allerdings hat die Zeitmessung auf dieser Ebene der fast elementarsten Teilchen mit unserem Zeitempfinden nichts zu tun. Wir haben die Fähigkeit erworben, Dinge zu machen, für die wir keine Begriffe und von denen wir keine Erfahrung haben.
Die Digitalisierung zwängt uns Geschwindigkeiten auf, die wir gar nicht mehr wahrnehmen. Warum haben wir es heute so eilig?
Wenn wir von Digitalisierung sprechen, meinen wir Technologien, die mit Lichtgeschwindigkeit Signale verarbeiten. Das ist viel zu schnell für uns. Wir können nur zuschauen, wie Computer mit Computern kommunizieren und sich Uhren über GPS mit Uhren verbinden. Das sagt uns nicht, wer wir sind, sondern wo wir sind. Die Risiken dieses Technik-Netzes können wir kaum noch einschätzen.
Das dachten die Menschen auch, als die Eisenbahn erfunden wurde. Peter Rosegger zufolge hielten sie die Bahn damals für ein Machwerk des Teufels...
Natürlich hatte man damals bei Zug-Geschwindigkeit ein unangenehmes Gefühl, weil der Sprung vom Pferdewagen so groß war. Aber ansonsten würde ich Ihnen widersprechen, denn bei der Eisenbahn hat man noch etwas gesehen: Riemen, Kolben, Pumpen und Menschen, die Kohle schaufelten, um die Lok anzutreiben. Bei digitalen Geräten hören wir nichts, sehen nichts, riechen nichts. Und auf einmal ist unser Arbeitsplatz weg, weil das Unsichtbare, das wir mit dem netten Wort Weichware, also Software, beschreiben, vor sich hin rechnet. Die Tätigkeit, die wir vorher im Schweiße unseres Angesichts gemacht haben, erledigt sie still und leise - und ganz allein. Das war bei der Lokomotive anders: Wenn sie nicht mit Kohlen befeuert wurde, stand sie. Bei Computern können wir nicht einmal sicher sein, dass sie wirklich ausgeschaltet sind, nachdem wir die Off-Taste gedrückt haben.
Wohin führt diese Beschleunigung?
Die Astronauten, die zum Mond flogen, waren mit 11,4 Kilometern pro Sekunde am schnellsten von allen Menschen unterwegs. Licht reist mit 300.000 Kilometern pro Sekunde durchs All. Wir verwenden Lichtgeschwindigkeit auf der Erde, damit Börsen kommunizieren und Computer miteinander handeln können. Diese Ultra-Beschleunigung hat Auswirkungen auf den Alltag. Wir haben die enorme Zeitverdichtung, die mit der Lokomotive begonnen hat, an die Spitze getrieben. Mit Lichtgeschwindigkeit sind wir am Rande der erkennbaren Wirklichkeit angekommen. Zwischen der höchsten Wirkungstransportgeschwindigkeit und der Quantenmechanik, die die kleinste Wirkung ist, liegen viele technischen Möglichkeiten. Wir aber bedienen uns der Extremwerte, um zu kommunizieren und zu automatisieren. Obwohl wir Menschen gerade 100 Jahre alt und 90 Kilogramm schwer werden und uns mit ein paar Metern pro Sekunde fortbewegen, haben wir es den ganzen Tag mit Extrem-Zeiten zu tun, um unseren Fortschritt befördern. Um diese Zeitkompression vorzunehmen, brauchen wir Energie. Jeder ist ständig im Zustand eines Intensivmediziners. Auf dem Smartphone geht es immer um Leben und Tod, man muss ständig erreichbar sein, wir ringen um Deadlines und machen hunderte Dinge gleichzeitig.
Welchen Stellenwert hat Multitasking in der Evolution?
Nicht Multitasking, sondern Kooperation ist das Erfolgskonzept. Kooperation verlangt aber ein gewisses Multitasking gegenüber dem Mitmenschen. In humanem Multitasking sind wir gut, aber sachlich sind wir unfähig, vieles gleichzeitig zu machen.
In Ihrem Buch "Wenn nicht jetzt, wann dann?" nennen Sie Handlungsfelder für die Weltpolitik. Was steht zum Jahreswechsel 2019 an?
Die Menschheit müsste von allem weniger machen. Wir haben ein hohes Wirtschaftswachstum, eine immer höhere Mobilität und in praktisch allen Bereichen, die Energie schlucken, zeigen die Kurven nach oben. Wenn es uns in Europa, in den USA, Japan, Australien und China gelänge, mithilfe einer wesentlich gelasseneren, gemütlicheren, langsameren Lebensart weniger zu verbrauchen, würde sich das sofort auf die Klimabilanz schlagen.
Konkret?
Wir müssen raus aus fossilen Ressourcen ohne gleichzeitig einen Riesensektor aufzumachen, der wieder mehr Energie verbraucht, indem wir uns mit Elektromobilität weiter beschleunigen. Denn auch damit brauchen wir nur immer mehr Ressourcen, um unsere intensive Zeitnutzung durchführen zu können. Zeit und Energie hängen unmittelbar zusammenhängen und ich bin ziemlich überzeugt davon, dass die Technik, die uns das Schlamassel eingebrockt hat, nicht die Lösung liefert. Sondern Verhaltensänderungen führen aus der Katastrophe heraus. Und ein Verantwortungsgefühl für die Mitwelt.
Harald Lesch, geboren am 28. Juli 1960 in Gießen, ist ein deutscher Astrophysiker, Naturphilosoph, Wissenschaftsjournalist, Fernsehmoderator und Hörbuchsprecher. Er ist Professor für Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Lehrbeauftragter für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Am 14. Jänner ist Harald Lesch zu Gast in Österreich und spricht mit Elisabeth Scharang im Gartenbaukino in Wien. In seinem am 17. Jänner erscheinenden Buch "Ein Physiker und eine Philosophin spielen mit der Zeit" erörtert er mit Karlheinz Geißler und Ursula Forstner das rätselhafte Phänomen der Zeit.