Noch nie wurden bei einer WM so viele Tore per Spitz erzielt – über die Anatomie eines verkannten Kunstschusses.
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Müssen sämtliche Fußball-Lehrbücher nach dieser WM umgeschrieben werden? Wird das ballestrische Dreigespann aus Innenrist, Außenrist und Vollspann um eine weitere Schusshaltung ergänzt? Und werden Mini-Knaben künftig keine Strafrunden mehr laufen müssen, wenn sie den Ball beim Schusstraining mit dem Spitz Richtung Tor rollen?
Alle so Gescholtenen dürfen sich ab sofort nämlich auf die Weltmeisterschaft im Allgemeinen und die südamerikanischen Ballzauberer im Besonderen berufen. Denn wohl noch nie zuvor in der Geschichte der Weltmeisterschaften wurden so viele Treffer mit dem Spitz erzielt (unsere deutschen Nachbarn sprechen gerne von der "Pieke").
Gleich beim Eröffnungsspiel düpierte Brasiliens Oscar den kroatischen Keeper per Spitzschuss aus gut 20 Metern zum 3:1-Endstand; dann wurde ausgerechnet Weltmeister Spanien durch zwei Spitztore von Chile (von Eduardo Vargas und Charles Aranguiz) nach Hause geschickt; und am Montag war es wieder ein Samba-Kicker (Fernandinho), der per großer Zehe den 4:1-Endstand gegen Kamerun besorgte. Es ist wohl auch kein Zufall, dass das bedeutendste Spitztor in der WM-Geschichte ebenso von einem Brasilianer erzielt wurde: "Il Fenomeno" Ronaldo erledigte 2002 im Semifinale die Türkei mit einem vorgeblichen Verzweiflungsschuss zum 1:0-Sieg. Was zunächst noch für Gelächter in der weiten Fußballwelt gesorgt hatte, endete schließlich mit dem bis dato letzten WM-Titel der Seleção.
Doch auch im rot-weiß-roten Fußballlexikon findet sich ein berühmter Spitzschuss: Herbert Prohaska traf 1977 im entscheidenden WM-Qualifikationsspiel in der Türkei aus einem Gestocher im Fünfer zum 1:0-Sieg – es war der legendäre "Spitz von Izmir". Ohne Spitz kein Córdoba also. Womit man sich die Frage stellen muss, warum diese Schusstechnik eigentlich gar so verpönt ist? Immerhin hat wohl noch jeder große Kicker als Spitzschießer (gilt hierzulande noch heute als Synonym für Antikicker) angefangen und als Kind instinktiv den Plastikball mit der Zehe getreten. Im Anfang war nämlich der Spitz.
Der prinzipiell große Vorteil bei dieser Schusshaltung ist schlicht, dass sich die Kraft schneller auf den Ball überträgt und dieser somit rascher beschleunigt. Der Nachteil: Er wird dadurch unkontrollierbar und steigt nicht selten in extreme Höhen. Außerdem sollte man die Verletzungsgefahr nicht außer Acht lassen. Doch wie die genannten WM-Treffer zeigen, ermöglicht es diese Schusstechnik, um die entscheidenden Hundertstel schneller zum Abschluss zu kommen; außerdem vermag der Stürmer damit die Torhüter, die heutzutage aus Fußhaltungen die Schussrichtung herauslesen können, noch zu überraschen.
So gesehen wird der Spitz möglicherweise von jedem, der ein kompletter Spieler sein will, ins Repertoire aufgenommen werden müssen. So wie Beidbeinigkeit seit Jahren zur Grundfertigkeit gehört; so wie Akteure wie David Beckham und Roberto Carlos einst mit speziellen Fußgelenkshaltungen Freistoß- und Flankenbälle revolutioniert haben und seither jeder Jugendkicker an seiner Schusshaltung herumexperimentiert.
Und wer weiß, vielleicht erleben wir bald Freistoßkünstler, die den Spitz als unhaltbare Waffe gegen Torleute einzusetzen wissen.