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Israel ist in einer akuten Notlage. Nicht wirtschaftlich, aber politisch. Das Land hat noch nicht eindeutig entschieden, ob es in einer Kriegssituation oder nur in einer gewaltsamen regionalen Krise ist. Auf die neue Regierung warten zahlreiche ungelöste innenpolitische Probleme mit Zeitzünderwirkung. Das internationale Ansehen des Landes sinkt. Und die Bevölkerung drängt vorsichtshalber wieder einmal zu den Verteilungszentren für Gasmasken.
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Am Dienstagnachmittag der Vorwoche brach der Sturm los. Mit 100 Stundenkilometer tobte er durch das Land, riss Bäume aus, wehte einen Mann vom Dach und richtete größere Schäden zwischen Tel Aviv und Jerusalem an. Es war der winterlichste Tag dieses Jahres. Er brachte nicht die nötigen Regenmassen. Das Land braucht dringend Wasser, weil die vorhandenen Reserven nur bis zur Jahresmitte reichen, und das Wasser kommt nur vom Regen in den vier Wintermonaten des Jahres. Der Bürgermeister von Tel Aviv aber atmete Mittwochmorgen auf: er hatte vorsorglich Noteinsatzteams alarmiert. Die unzulängliche Kanalisation im Süden Tel Avivs war im letzten Sommer nicht renoviert worden und beim ersten heftigen Regen der Saison im Süden Tel Avivs im November ertrank ein Kleinkind in der überschwemmten Wohnung seiner Eltern. Das ist nur ein Detail des Alltags in einem Land, das zwischen Hochtechnologie der Ersten und Defiziten der Dritten Welt oszilliert. Die Industrie Abwässer werden bei Haifa ins Meer versenkt. Die schmalen Flüsschen sind so vergiftet, dass, wie jetzt bestätigt worden ist, Soldaten, die darin trainieren mussten, Krebs bekamen.
Rechtsextreme in die neue Regierung
Zur Zeit hat Israel überhaupt keine wirkliche Regierung. Der Statthalter Ehud Barak stellt Rekorde im politischen Flickflack auf. Ariel Scharon, künftiger Ministerpräsident, der laut Wahlwerbung den Frieden bringen will, hat nach Baraks endgültigem Abgang aus der Politik am Dienstagabend erklärt, dass Avigdor Liebermann und Rechavam Ze'evi fix in seiner künftigen Regierung seien. Liebermann führt eine Partei der nun ein Sechstel der Bevölkerung umfassenden russischen Einwanderer und hat vor kurzem erklärt, dass Israel notfalls zu seiner Verteidigung auch den Assuan Staudamm in Ägypten sprengen könnte. Er ist übrigens vom Generalstaatsanwalt als nicht regierungstauglich erklärt worden, weil gegen ihn ein Strafverfahren wegen Beschimpfung und Drohung gegen Polizisten anhängig ist, das nur aufgrund seiner parlamentarischen Immunität nicht durchgeführt werden kann. Ze'evi, der stets mit der offen über dem Hemd getragenen "Hundemarke" der Armee auftritt und unpassenderweise den Spitznamen "Gandhi" trägt, ist ein Verfechter der Aussiedlung der arabischen Bewohner Israels und der besetzten Gebiete in jenen Teil des historischen Palästina, der nun Jordanien heißt. Beide Rechtsaußenpolitiker wollen noch ein zusätzliches Vizeministeramt für ihre Fraktion: Liebermann im Innenministerium, wo Entscheidungen über die Aufnahme von Immigranten getroffen werden, und Ze'evi im Verteidigungsministerium, und zwar im Bereich Verteidigung der jüdischen Siedlungen im besetzten Gebiet.
Forderungen der Ultrareligiösen
Die ultrareligiösen Parteien verlangen teure Geschenke für ihre Teilnahme an der Regierung: die Schas-Partei will ihre chronisch defizitären Schulen und Talmudhochschulen finanziert haben. An Lerninhalten bieten diese Schulen keinen üblichen Standard an, Hauptgegenstand ist Religion, aber sie bieten Nachmittagsbetreuung und ein warmes Mittagessen für die Schüler gegen minimale Gebühren an. In Israel, wo die meisten Familien mehrere Kinder haben und zwei Verdiener zur Sicherung des Lebensunterhalts brauchen, ist das sehr attraktiv. Die ebenfalls orthodoxe Partei des Thorajudentums verlangt, dass die von Barak eingeleitete Aufhebung der Befreiung von Talmudstudenten von der dreijährigen Grundwehrpflicht, weiterhin aufgeschoben wird und die Gottes- statt Militärdienst leistenden jungen Männer trotzdem alle finanziellen Leistungen bekommen, die Männern und Frauen nach dem Militär aus öffentlichen Mitteln zustehen. Unter den 20% von der Militärpflicht enthobenen jungen Menschen kommt ein Anteil von knapp 10% aus diesem Bereich. Diese 10% sind zugleich annähernd 100% der jungen Männer im ultrareligiösen Bevölkerungssektor im wehrpflichtigen Alter.
Politisch mengen sich freilich immer mehr Ultrareligiöse unter die Rechtsaußengruppen der israelischen Bevölkerung.
Linke schwer getroffen
Die israelische Linke ist schwer getroffen. Die Linke, das sind die Friedensbewegten und jene Politiker, die auf politische Lösungen für einen, in seinen Grundzügen jedenfalls irrationalen Konflikt in der Region gesetzt hatten. Die einen, vom Schlage eines Uri Avnery, marschieren auf ihrem Weg weiter entgegen aller verstehbaren Zweifel. Die andern, Amos Oz zum Beispiel, ziehen sich enttäuscht in intellektuelle Klagezirkel zurück. Nüchternheit fehlt allerorten. Vor allem in der Arbeiterpartei, die durch Ehud Baraks autistischen Führungsstil an den Zusammenbruch herangeführt worden ist. Die Partei hat wie viele altgediente sozialistische Parteien in Europa, die gesellschaftlichen Veränderungen nicht in ihrem Programm reflektiert. Sie hat vor allem niemals die Wandlung in eine sozialdemokratische Partei geschafft, wie sie in der Politszene der Gegenwart erfolgreicher ist. So werden nun mit mindestens einem Jahrzehnt Verspätung die Linken Israels in ein Experiment einer neuen sozialpolitischen Bewegung starten. Jossi Sarid, der Führer der linksliberalen Meretzpartei, und vielleicht auch der Hauptarchitekt der Oslo-Verträge, Noch-Justizminister Jossi Beilin, sind in Gesprächen darüber. Ob das noch rechtzeitig für die nächsten Wahlen gelingt, ist fraglich.
Die Knesset, das israelische Parlament, setzt sich aus 18 Parteien zusammen, nachdem nach den letzten Parlamentswahlen im Mai 1999 eine rege Politikerwanderung eingesetzt hatte, die Splitterungen und Neuverbindungen geführt hat. Die Gesichter sind immer dieselben, nur die Parteinamen wechseln. Neueste Fraktion ist eine neu konstituierte arabische Fraktion. In der neuen Regierungsperiode Scharon - wohlgemerkt: nicht Legislaturperiode - wird von den 120 Abgeordneten ungefähr jeder vierte ein Minister sein. Scharon plant 26 Minister plus einige Vizeminister.
Diskussion um neues Wahlrecht
Das israelische Demokratieinstitut, eine unabhängige politische Forschungseinrichtung, setzt sich intensiv für eine Änderung des Wahlrechts ein. In der gegebenen Situation könnten die israelischen Bürger schon im Spätherbst wieder zu den Urnen gerufen werden, dann nämlich, wenn Ariel Scharon mit seiner Koalitionsregierung scheitert. Im schlimmsten Fall wird im Herbst aber wieder nur ein neuer Ministerpräsident gewählt.
Alle diese Turbulenzen finden statt in einer Zeit, in der täglich gewaltsam Menschen umkommen: die Intifada fordert einen hohen Blutzoll. Spätestens seit dem jüngsten Anschlag mit der Waffe "Autobus" an einer Haltestelle vor einer Woche haben die Israelis begriffen, dass die "kriegsähnliche Situation" nicht nur jenseits der Grünen Linie, also der ehemaligen Grenze vor dem 6. Juni 1967, herrscht, sondern mitten im Land. Begräbnisse junger Menschen sind auch in Israel Alltag geworden. Die Ankündigung der Palästinenser vom Oktober, dass es auch in Israel Tote geben müsse, ist wahr geworden. Die Konsequenz, die die Israelis daraus ziehen, entspricht nicht den palästinensischen Vorstellungen. Der viel bejubelte Rückzug aus dem Libanon scheint vielen Israelis heutzutage als falsche Strategie, nachdem bereits mehrere Soldaten, die damals zur Erleichterung ihrer Familien und Freunde lebendig heimgekehrt sind, nun bei Anschlägen innerhalb des Landes - wie dem vergangene Woche bei Holon - umkamen.
Die Kategorie des Kampfes ist ungeklärt. Ehud Barak hat den Konflikt mit den palästinensischen Aufständischen zum "kriegsähnlichen Zustand" umdeklariert. Das bedeutet nach internationalen Normen, nicht für Schäden aus Kämpfen aufkommen zu müssen. Israel bezahlte den Opfern der Ersten Intifada von 1987 bis 1993 insgesamt beträchtliche Summen an Entschädigung. Es ist absurd, wenn ein 14-jähriger Steineschleuderer erst durch ein gummiummanteltes Geschoss der israelischen Armee gelähmt wird und dann vom israelischen Staat eine Entschädigungssumme und eine Rente zugesprochen bekommt, von der er einen kleinen Greisslerladen schlecht und recht betreibt. Juristisch liegt ein Problem darin, dass auf der einen Seite ein Staat kämpft, auf der anderen eine Guerilla, die von einer teilweise autonomen politischen Einheit nicht so in Schach gehalten werden kann oder muss, wie ein souveräner Staat seinen Nachbarn gegenüber verpflichtet ist.
Auch der formal souveräne Libanon nimmt seine diesbezüglichen Pflichten im Verhältnis zur Hizbollah-Guerrilla nicht ausreichend wahr. Und Jassir Arafat ist ein Meister im versuchten Balancieren zwischen Staatsmann und Gewalt predigendem Führer einer Unabhängigkeitsbewegung. Die Ansprachen in internationalen Arenen auf Englisch unterscheiden sich grundsätzlich von jenen in Gaza auf Arabisch. Die Israelis sind tatsächlich verwirrt. Viele Aktionen der Verteidigung führen ins Minenfeld internationaler Verurteilung. Der Stein in der Hand des Jugendlichen wirkt medial weniger tödlich als ein Maschinengewehr. Die automatischen Waffen in den Händen einer nicht uniformierten Gruppe von Widerstandskämpfern in Jeans mit Kaffiya auf dem Kopf haben trotz allem einen Hauch von Romantik gegenüber einer modernst ausgestatteten roboterartigen Kriegsmaschinerie. Ein souveräner und demokratischer Staat darf nicht Gegner, auch wenn sie bewaffnet sind und von außen mit letaler Gewalt in sein Hoheitsgebiet einwirken, auf dem Gebiet eines anderen Staates liquidieren. Rechtens müsste es ein Verfahren geben, wenn nicht anders, dann vor einem internationalen Tribunal.
Das Grenzproblem
Zwischen Israel und den autonomen palästinensischen Gebieten gibt es noch keine Grenze im üblichen Sinn: keine Schilder, keine Zäune, keine Grenzbalken. Palästinensischen Kämpfer kommen bei Einbruch der Dunkelheit, schießen und verschwinden wieder in die autonome Zone. Israelische Kommandoeinheiten in Zivil betreten die autonome Zone, liquidieren jemanden, den Israel für einen erwiesenen Terroristen hält und kehren in das Kernland zurück.
Ökonomisch sind die beiden Einheiten eng miteinander verknüpft. Immer mehr Israelis wollen nun die einseitige Abtrennung dieser Zone. Israel kann das wirtschaftlich verkraften, die Palästinenser können das bis auf weiteres noch nicht.
Immer noch nehmen Friedensbewegungen und Menschenrechtsorganisationen in Israel die Demokratie ernst. Sie kritisieren die Regierung und kämpfen, vor allem publizistisch, gegen die üblichen Vergeltungsmaßnahmen nach Anschlägen: Demolierung von Häusern im Gebiet, von dem aus ein Angriff geführt wurde; Planierung von Obst- und Olivenhainen, die als Deckung für Angreifer dienen könnten.
Mittwoch wurde bekannt, dass die Armeeführung die Leitlinien für den Einsatz von Schusswaffen jedenfalls für den Gazastreifen geändert hat. Rund um die dortigen israelischen Siedlungen darf nun ohne Befehl auf jeden Fußgänger geschossen werden, der sich einem Militärstützpunkt nähert.
Untersuchung des Todes von 13 Arabern
Die Friedensbewegungen, immer kleiner in der Zahl ihrer Aktivisten, kämpfen für einen Rückzug aus den besetzten Gebieten und für eine Gleichbehandlung der palästinensischen Bevölkerung innerhalb Israels. In diesen Tagen führt eine spezielle Untersuchungskommission der Regierung Erhebungen durch über das, was im Oktober wirklich bei den Unruhen im arabischen Sektor des Staates geschah, bei denen 13 israelische Palästinenser von Polizeieinheiten getötet worden sind. Diese Kommission ist erst nach langen Umwegen eingerichtet worden und sie zeigt bereits, dass die Polizei, darunter auch israelische Araber, wenig bis keine Versuche machte, die Unruhen anders als durch Einsatz von lebensgefährdenden Waffen zu bekämpfen.
Als ob das alles nicht genug wäre, wurden die Israelis jüngst zusätzlich aus der Sabbathruhe gerissen: die CNN Berichte von amerikanischen und britischen Luftangriffen auf Bagdad riefen Erinnerungen an die zeit vor zehn Jahren wach, als Dutzende irakische Raketengeschosse das Zentrum des Landes und Tel Aviv trafen. Daraufhin verfünffachte sich die Zahl der Israelis, die bei den Zentren der Heimfront eine Adaptierung ihrer Gasmasken durchführen ließen oder neue abholten.
Doch, eine gute Nachricht gibt es auch aus diesem brodelnden Kessel: Israels kleine Grünpartei hat bekanntgegeben, dass es im Frühjahr, rechtzeitig zum traditionellen Großputz vor dem Pessachfest auch hierzulande umweltfreundliche Putzmittel zu kaufen geben wird. Die an Chlor- und Toxinhaltige Powerreiniger gewöhnte israelische Hausfrau wird vielleicht auch wieder Schmierseife zu schätzen lernen.