Shaxi galt als der einzige vollständig erhaltene Marktplatz entlang der historischen Tee-Pferde-Straße in China. Touristische Bauprojekte drohen nun das mühsam restaurierte Ortsbild zu zerstören.
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Nirgendwo sonst ist der Begriff "Zeit" so dehnbar wie in China. Sie scheint davonzurasen auf Hochgeschwindigkeitsstrecken, auf denen Züge mit 300 km/h durchs Land brettern, oder aber auch in Städten, in denen man nie weiß, ob das eigene Haus morgen noch steht, oder im Zuge der Modernisierung schon einem neuen weichen muss.
Shaxi hingegen ruhte bis jetzt in sich selbst. Hier scheint die Zeit im Auge des Sturms still zu stehen und die Jahrhunderte zu einem epischen Gemälde auszuwalzen. Selbst die Dorfbewohner wirken darin gefangen, wenn sie in Zeitlupe von einer Steinbank zur nächsten mäandern, offensichtlich darauf bedacht, dem Hauch der Ewigkeit gerecht zu werden, der durch dieses Dorf weht.
Eingebettet in ein Tal der nordwestchinesischen Provinz Yunnan hat sich dieser Bereich der östlichen Himalaya-Ausläufer den Umwälzungen im Reich der Mitte bislang entzogen. Shaxi ist der einzige vollständig erhaltene Marktplatz entlang der historischen Tee-Pferde-Straße, eines Seitenarms der Seidenstraße. Seit 2001 genießt er besonderen Denkmalschutz, der World Monuments Fund (WMF) zählt ihn zu den meist bedrohten Kulturdenkmälern der Welt. Offenbar zu Recht, wie sich zeigt.
Historischer Marktplatz
Ein schmales Bächlein fließt den gepflasterten Weg hinab Richtung Dorfplatz, in dessen Mitte zwei alte Akazienbäume Schatten spenden. Als Echo einer vergangenen Zeit vermeint man fast das Hufgetrappel jener Karawanen zu hören, die sich hier einst entlang von Geschäften, Restaurants, Gästehäusern, Pferdeställen und Warenlagern tummelten. Shaxi war lange ein wichtiger Zwischenstopp auf den antiken Handelsrouten der Tee- und Pferdestraße zwischen Tibet und Südost-Asien. Vor über 1000 Jahren handelten hier Tibeter mit ihren berühmten und widerstandsfähigen Pferden und tauschten diese gegen den begehrten Tee aus Yunnan.
Der Hof der Song-Dynastie schickte die fähigsten Beamten auf die beschwerliche Reise, denn die Pferde wurden zur Verteidigung gegen die Eindringlinge aus dem Norden dringend benötigt. Nachdem mehrere Bergwerke westlich von Shaxi ihren Betrieb aufgenommen hatten, kam der Salzhandel hinzu, und das Dorf wurde allmählich zu einem wohlhabenden Wirtschaftszentrum.
Während der trockenen Wintermonate zog fast jeden zweiten Tag eine Karawane durch das Dorf, und der Marktplatz füllte sich mit Händlern, die um Salz, Pferde, Tee, Tierhäute und Knochen sowie Moschus und Medizin feilschten. Unter der einen oder anderen Satteldecke versteckte sich auch meist ein Päckchen mit Opium, das schon damals ebenso begehrt wie verboten war.
Mit den Gütern kamen die Götter, und gegenüber einer Theaterbühne, die dem Gott der Literatur und Kultur Kuixing geweiht war, errichteten die Buddhisten den Xingjiao-Tempel, dessen Eingang von zwei grimmigen Dämonen bewacht wird. Doch auch sie konnten den Untergang nicht aufhalten, als die Volksbefreiungsarmee 1950 gegen Tibet vorrückte und alle Lasttiere konfiszierte, derer sie habhaft wurde. Der Handel zwischen Tibet und Ostasien, der über Jahrhunderte florierte, fand sein abruptes Ende, und das Verbot von privaten Märkten trug sein Übriges zum Niedergang der Karawanenstadt bei.
Im Zuge der einsetzenden religiösen Verfolgung wurden die Tempel geschlossen und lokale Verwaltungen zogen ein, was das Verschwinden vieler Kunstschätze zur Folge hatte. Zum Glück hatte sich der Staub der Geschichte zuvor über die wertvollen Fresken gelegt; den Blicken entzogen, sollten sie das Wüten der Kulturrevolution überstehen. Bei ihren radikalen Entwicklungsplänen schienen die Kommunisten Shaxi irgendwie zu übersehen, eine neue Straße führte an dem Tal vorbei - und langsam fiel das frühere wirtschaftliche Zentrum in Vergessenheit.
Hausbesetzer zogen in die Geisterstadt, erste historische Gebäude verfielen und stürzten teilweise ein. Während der aufkeimende Tourismus die angrenzenden Städte Lijiang und Dali in lärmende Vergnügungsmeilen verwandelte, blieb es in Shaxi geradezu gespenstisch ruhig. Der Schleier der Vergessenheit wurde zum Segen für das Dorf, denn als die Entwicklungsplaner um die Jahrtausendwende endlich auf die versunkene Karawanenstation aufmerksam wurden, war der Schaden der bisherigen Aufbaustrategie bereits unübersehbar.
In Shaxi entschied man sich daher für einen anderen Weg und beauftragte den renommierten Schweizer Raumplaner Jacques Feiner mit der Restaurierung des Dorfes. Dieser hatte zuvor das bereits verloren geglaubte Juwel Sanaa im Yemen vor dem Untergang bewahrt. "Als wir in Shaxi auftauchten und erklärten, der Ort sei kulturhistorisch wertvoll und eine Chance für die weitere Entwicklung des Tales, musste es für die Bevölkerung so wirken, als würde ein Ufo landen", erinnert sich der Architekt an das Erstaunen, das seine Arbeit zunächst auslöste. In der Tat war sein Ansatz ein völlig anderer, als man es bisher in China gewohnt war: Statt die heruntergekommenen Gebäude abzureißen, wurden sie vorsichtig mit traditionellen Techniken und Materialien restauriert.
Moderne Infrastruktur
Unvermeidbare moderne Zusätze wie Telefonleitungen und Elektrizität sind hingegen auch als solche zu erkennen und wurden nicht in einem vermeintlich "traditionellen Stil" getarnt. "Wir mussten erreichen, dass im historischen Dorf die Infrastruktur verbessert wurde, indem etwa neue Wasserleitungen und eine Kanalisation gebaut wurde", erzählt Feiner. Darüber hinaus wurde ein Mikrokredit-System entwickelt, das Eigeninitiativen der Bewohner unterstützt und Starthilfe für Unternehmen bietet - immerhin zählt die Region zu den ärmsten Gebieten Chinas und mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 120 Dollar leben viele Menschen an der Armutsgrenze.
Nach drei Jahren waren die Arbeiten Ende 2004 abgeschlossen. Sie wurden international gefeiert. So zeichnete die Unesco das Projekt etwa mit dem Preis zur Bewahrung des kulturellen Erbes aus. Für die Qualität der Restauration spricht, dass auch das Kulturministerium der Provinz Yunnan seine rund 60 vollamtlichen Denkmalpfleger anhand von Workshops in Shaxi weiterbildet.
Allgemein steht der Denkmalschutz in China jedoch auf verlorenem Posten, wie das nur wenige Fahrstunden entfernte Beispiel Lijiang zeigt: Die mit deutscher Hilfe sanierte Altstadt verwandelte sich innerhalb weniger Jahre unter dem Ansturm der Touristen von einem kulturhistorisch und ethnographisch bedeutsamen Ort zu einer Disneyland-artigen Erlebniswelt, in der ein Großteil der einheimischen Bevölkerung keinen Platz mehr hat.
Für dieses Verständnis von Denkmalschutz - historisch wertvolle Bausubstanz abreißen und tourismusförderliche Fantasiebauten hochziehen - gibt es in ganz China groteske Beispiele. So steht etwa in der Stadt Datong in Pekings Nachbarprovinz Shanxi eine sieben Kilometer lange und 14 Meter hohe Stadtmauer, ein typisches Bauwerk der Ming-Dynastie. Baubeginn war 2008 - das Original hatte die Kulturrevolution nicht überlebt und wurde ab den 50er-Jahren sukzessive abgerissen.
In der Hauptstadt selbst fiel ein ganzes Altstadtviertel den Olympischen Spielen 2008 zum Opfer, als die traditionelle Flaniermeile Qianmen südlich des Tiananmen-Platzes der künstlichen Rekonstruktion eines Chinas weichen musste, das es in dieser Form nie gegeben hat. Stattdessen sollen jetzt Filialen von H&M und McDonald’s sowie eine Nostalgiestraßenbahn Touristen anlocken.
Nostalgie ist dem chinesischen Denken weitgehend fremd; Entwickeln geht vor Bewahren. Dementsprechend wird Denkmalschutz nicht um seiner selbst willen betrieben, sondern als Mittel zum Zweck: Sofern dieser kommerziell verwertbar ist und beispielsweise dem Tourismus dient, wird er akzeptiert, wenngleich häufig als Raubkopie vergangener Zeiten.
Damit dieses Schicksal Shaxi nicht widerfährt, hatte sich das Team um Jacques Feiner bemüht, einen sanften Tourismus anzukurbeln und zusätzliche lokale Ressourcen zu nutzen: "Natürlich stellt der Tourismus die wichtigste Entwicklungsmöglichkeit dar. Doch sie kann nur dann sinnvoll genutzt werden, wenn der Prozess kontrolliert wird, sonst besteht das Risiko, dass in kurzer Zeit sehr viel zerstört wird", warnte der Schweizer vor den möglichen Folgen einer totalen Kommerzialisierung. Vor einigen Jahren zog er sich aus dem Projekt zurück, um die Verantwortung der lokalen Verwaltung und der ansässigen Bevölkerung zu übergeben. Für eine Zeit lang schien das Experiment gut zu gehen, mehr und mehr Gäste entdeckten das Tal für sich, um zu wandern, Tempel zu erkunden oder einfach nur in der intakten Natur zu entspannen.
Touristen-Karawanen
In den Augen der Behörden waren es jedoch zu wenige. Ende 2013 wird eine neue Autobahn das Tal mit den bisherigen Publikumsmagneten Lijiang und Dali verbinden, und in Shaxi bereitet man sich auf den zu erwartenden Gästeansturm vor. Ein ganzer Straßenzug auf dem Weg zum Marktplatz wurde bereits abgerissen, die Computeranimationen der neuen Häuser erinnern verdächtig an die Souvenirshops und Boutiquen der bekannten Vorbilder. Yang Ze Xiong, der Dorfvorsteher von Shaxi, verteidigt die Entscheidung: "Historisch gesehen war dieses Tal schon immer ein Zentrum für Handel und Kommerz, das von vielen Menschen besucht wurde. Um zu dieser alten Größe zurückzufinden, müssen wir uns weiterentwickeln. Neue Karawanen werden aus aller Welt kommen, diesmal allerdings keine Händler, sondern Touristen."
Die neue Strategie scheint innerhalb des Dorfes nicht auf ungeteilte Zustimmung zu stoßen: Li Yan ist ein Bauer, der sich mit Taxi- und Shuttlediensten ein kleines Zubrot verdient. Er sagt: "Ich lebe hier von zirka 500 Yuan (rund 60 Euro) pro Monat, damit geht es mir vergleichsweise gut. Doch wenn die Preise durch diese neuen Tourismusprojekte steigen, können wir uns unser eigenes Dorf bald nicht mehr leisten." Und auch eine Gruppe von Backpackern, die extra aus Neuseeland angereist ist, steht einigermaßen fassungslos vor den durch Werbeplakate abgeschirmten Baustellen: "Wie kann man so einen Schatz nur zerstören - das hier ist doch das Mittelerde Chinas."
Wu Gang, geboren 1978 in der Steiermark, lebt und arbeitet seit 2010 in China. Zuvor journalistische Arbeiten im Print- und Radiobereich (Radio Soundportal, Styria).