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Im Bann des Balls

Von Simon Rosner

Reflexionen
Es wird heiß im Stadion, Günther ist dabei
© Corbis

Jeder größere Fußballklub in Europa hat seine Fans,die einen mehr, die anderen weniger. Sie leben für ihren Verein und folgen ihm zu allen Spielen. So wie Günther. Die Person ist zwar frei erfunden, der Mensch aber nicht.


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Günther ist auf dem Weg ins Stadion. Wie jede Woche. Manchmal sogar zweimal die Woche. Das sind die harten, die anstrengenden, die richtig großartigen Wochen. Günther hat es nicht sehr weit bis ins Stadion, aber jedes zweite Mal muss er weiter fahren, viel weiter. Dann ist Auswärtsspiel.

Es gibt verschiedene Arten von Fans: die Alteingesessenen, die immer schimpfen, und die Jungen, die immer singen. Es gibt die, die daheim vor dem Fernseher kein Match versäumen, und die, die ins Stadion gehen. Es gibt jene, die sich nur im Erfolgsfall zu ihrem Verein bekennen, und jene, die auch die bitteren Stunden mit anderen Fans teilen. Und es gibt die, die immer und überall dabei sind, zuhause und auswärts, in der Meisterschaft und im Europacup. Günther ist so ein Fan.

Er liebt vor allem die Auswärtsfahrten, liebt es, wenn der Bus oder der Zug zum Stadion wird und er unter Fans seines Klubs sitzt. Und es sind nicht nur Gleichgesinnte, es sind auch Freunde. So wie Lukas, der den Fanklub vor vielen Jahren gegründet hat. Lukas hat seit vielen Jahren kein Spiel mehr verpasst, er ist ein Vorbild.

Auch Günther hat schon lange kein Spiel mehr versäumt, obwohl ihm dieses Immerdabeisein am Anfang gar nicht so wichtig war. Wenn er einmal keine Zeit hatte, war er zwar sauer, aber weil er eben das Match nicht sehen konnte. Jetzt würde er sich vor allem ärgern, weil seine Serie zu Ende wäre. Bei 145 Partien war er ohne Unterbrechung dabei. Das hat Günther viel Respekt eingebracht.

Davor hatte er immer wieder einmal wegen der Arbeit gefehlt, zweimal hatte er Grippe und einmal hatte er sich mit der Freundin so lange um die Auswärtsfahrt gestritten, dass der Bus mit seinen Freunden ohne ihn weggefahren ist. Vor Verzweiflung hat er damals sogar ge-

weint, dann hat er weiter gestritten, so lange, bis es aus war. Die Freundin wollte nicht verstehen, wie wichtig ihm diese Auswärtsfahrten sind.

Und wegen einer einfachen Grippe bleibt er auch nicht mehr daheim, seit Lukas sogar mit einer Lungenentzündung ins Stadion gegangen ist. Dann trinkt er halt kein Bier, singt ein bisschen weniger, aber er ist dabei und die Serie hält. Das wird anerkannt von seinen Freunden. Sie leben, wie Günther, fast nur für den Verein, manchmal singen sie auch: "Wir sind der Verein".

Das hören dann einige Funktionäre im Verein nicht so gerne, weil die Fans in der Masse auch mächtig sind. Doch Günther denkt sich: Er gibt das viele Geld aus, er investiert seine Freizeit, er tut alles für den Klub, während die Spieler, Trainer und Manager nur für den Verein arbeiten, weil sie von ihm Geld bekommen. Günthers Lieblingsspieler verdient das Zwanzigfache von ihm. Und es ist auch Günthers Geld, das er bekommt.

Einmal hat der Verein den Trainer nach einer konzertierten Protestaktion der Fans entlassen. Die Mannschaft hatte eine schlechte Phase, der Druck auf die Vereinsführung war groß, deshalb musste sie reagieren. Auch Günther hatte bei der Protestaktion mitgemacht, und am Abend, als sich die Meldung von der Entlassung herumsprach, ist er mit den Freunden noch feiern gegangen. Die Mannschaft hatte zwar verloren, aber sie, die Fans, hatten gewonnen.

Seit Günther jede Woche ins Stadion geht, seit er für den Verein lebt, ist das Leben für ihn einfacher geworden. Seine alten Freunde können das nicht nachvollziehen, auch wenn sie selbst gerne ins Stadion gehen. Aber nicht jede Woche.

Sie sehen, dass es sich bei Günther hinten und vorne nicht ausgeht. Mit dem Geld, der Freizeit, der Arbeit, seinem Kind. Günthers Priorität ist der Fußball, dann kommt lange nichts, dann erst der Rest. Was seine alten Freunde nicht sehen, ist, dass Günthers Leben früher gar keine Priorität, keine Struktur hatte. Deshalb war das Leben schwierig. Etwa als die Ex-Freundin anrief und Günther erzählte, dass er Vater wird. Da war Günther 24 Jahre alt und hatte gerade wieder einmal gekündigt.

Heute hat Günther keine Probleme mehr, sich für die Arbeit zu motivieren, zumal der Chef Verständnis für seine Leidenschaft hat. Und Günther braucht die Arbeit, weil diese Leidenschaft viel kostet. Ein paar Tausender werden es schon sein pro Jahr. Die Eintrittskarten zu den vielen Spielen, die Reisen, die Trikots und Schals. Doch es kostet, was es eben kostet.

Ab nächster Saison kommt dann auch der Sohn ins Stadion mit. Früher hatte er wenig Bezug zu ihm und sah ihn nicht oft, doch das hat sich geändert, seit Günther seinen Sohn für den Verein begeistern konnte. Jetzt haben sie etwas gemeinsam. Darauf ist Günther auch stolz, weil es ihm ein Anliegen war, diese Begeisterung weiterzugeben. Das ist ihm gelungen.

Zu welchem Verein man hält, entscheidet sich früh. Günther hätte gut und gerne auch zu einem anderen Verein halten können, zu dem seines Vaters. Doch der hatte sich nie wirklich um Günther gekümmert, wollte nie mit ihm ins Stadion gehen, weshalb Günther irgendwann mit einem Schulfreund mitgegangen ist. Und der hat eben zu einem anderen Verein gehalten als der Vater. Und als Günther dann im Stadion stand, zum ersten Mal, die Fans gehört und gesehen hat, das leuchtende Grün des Rasens, war für Günther klar, dass sein Vater zum falschen Verein hält.

Seinen ersten Stadionbesuch hat Günther immer noch gut in Erinnerung. Er wusste damals gar nicht, wohin er schauen, wem er zuhören sollte. Was singen die? Was schimpft der Mann da vorne? Von wem war der Pass? Für Günther ging alles viel zu schnell. Er jubelte einfach mit, wenn alle um ihn herum bei den Toren explosionsartig aufsprangen. Dass sich bei den Treffern alle in den Armen lagen, hat Günther schon damals gefallen. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Zuhause, allein vor dem Fernseher, hatte er sich nie so freuen können wie im Stadion.

Nach wie vor springt Günther bei jedem Treffer auf der Tribüne herum, jedes Tor seiner Mannschaft bedeutet Glück, das einen unvorbereitet trifft, auch wenn man immer auf ein Tor hofft. Jeder Treffer, jeder Jubel ist schön, aber dann gibt es natürlich auch die besonderen Tore und Spiele. Wenn Günther und seine Freunde beisammen sind, vor allem während der Auswärtsfahrten, erzählen sie einander immer wieder von diesen besonderen Momenten. Die wenigen Älteren, die noch immer dabei sind, erzählen den Jüngeren von früher. Günther weiß fast alles über diese Zeit, obwohl er sie gar nicht miterlebt hat. Aber er hat alles nachgeholt. Und wenn Günther all diese Geschichte, die erlebten und nacherlebten, weitererzählt, dann sagt er häufig den Satz: "Das war legendär."

Den Klub gibt es schon viele Jahrzehnte, und es gibt mehr Geschichten, als je erzählt werden können. Vieles ist gut dokumentiert, die Ergebnisse, die früheren Spieler, aber auch die Geschichten und Legenden, die diesen Verein ausmachen. Und sie hören nie auf, immer kommen neue Geschichten dazu, der Verein ist wie ein spannendes Buch, das niemals endet, aber auch nie an Dramatik verliert. Und manche Geschichten schreibt auch Günther durch sein Anfeuern und seine Leidenschaft mit. Davon ist er überzeugt.

Wegen all dieser Legenden ist Günther die Tradition des Vereins sehr wichtig. Vor drei Jahren hatte er ein Trikot von 1972 im Internet ersteigert. Da war Günther zwar noch gar nicht auf der Welt, aber natürlich kennt er den legendären Stürmer, der damals das Trikot getragen hatte. Er hütet es wie einen Schatz, nur bei besonderen Spielen zieht er es an, es ist sein Glücksbringer und eine Art Versicherung gegen Enttäuschungen.

Das funktioniert natürlich nicht immer. Wer Fan ist, erlebt auch bittere Stunden. Aber dafür gibt es die Freunde, die einander gegenseitig trösten. Diese Gemeinschaft hat Günther vorher nie erlebt. Als ihm vor drei Jahren die Heizung mitten im Februar eingegangen ist und er sich unmöglich die Reparatur leisten konnte, weil der Verein im Herbst davor so erfolgreich war, dass Günther viel durch Europa reisen musste, haben seine Freunde aus dem Fanklub zusammengelegt und die Rechnung bezahlt. Lukas hatte alles organisiert, dafür wird er ihm ewig dankbar sein. Und Günther wird auch dem Verein ewig dankbar sein. Erstens für alles, und zweitens, weil auch der Verein damals für die Heizung gespendet hat. Günther weiß: Diese Liebe wird halten. Für immer.