Einwanderung: 110.000 Neuanträge, 150 Beamte - der Alltag in Wiens Behörde.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Dresdnerstraße 93, Brigittenau. Um neun Uhr morgens bildet sich eine lange Warteschlange entlang des Absperrbands im Erdgeschoß der MA 35, der größten Einwanderungsbehörde Österreichs. Rund 70 Männer und Frauen harren aus, um ihre Nummer zu ziehen. "Keine Nummern? Kein Service! Keine Ausnahmen!", heißt es auf einem Schild. Unterm Arm haben die meisten Stapel voller Papiere eingeklemmt. Manche sind zum ersten Mal hier, manche jede Woche. Andere wiederum kommen seit Jahren. Die Stimmung ist angespannt.
Als chaotischer "Sauhaufen" wird die Einwanderungsbehörde von Fremdenrechtsanwälten bezeichnet. Ein kafkaeskes Labyrinth, in dem Beamte nie zu erreichen sind, Telefone nicht abgehoben und Termine nicht eingehalten werden. Betroffene klagen über lange Wartezeiten, unverständliche Dokumente und unfreundliche Beamte. Diese sind, wie sie sagen, schlichtweg überfordert und dadurch oftmals gestresst - von den Gesetzen, dem mangelnden Personal und Klienten, die schon einmal handgreiflich werden können. Was läuft schief in der MA 35?
"Gesetzlicher Dschungel" erschwert Beamtenleben
110.000 Neuanträge werden jedes Jahr gestellt. Um die sich 150 Beamte kümmern. Seit dem neuen Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz 2005 hat sich die Zahl der jährlichen Anträge fast verdoppelt, sagt Beatrix Hornschall, Leiterin der MA 35. Sie wünscht sich eine Reform und eine Vereinfachung des "gesetzlichen Dschungels". Davon sei man allerdings "meilenweit entfernt".
In den vergangenen acht Jahren wurde das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz 17 Mal geändert: Kaum ein anderer Bereich wird so oft angepasst und ist gleichzeitig politisch so umstritten. Immer restriktiver werden die Gesetze und immer unverständlicher. Selbst Fachjuristen kämpfen mit der Materie. Gerade einmal drei sind in der MA 35, Fachbereich Einwanderung, angestellt. Sie nehmen die fragenden Anrufe der Beamten jeden Tag entgegen: "Wie ist dieser Paragraph auszulegen, wie jener?"
Jeden Tag muss die Beamtin Rakhi Bharti-Sharma bei einem Juristen ihres Vertrauens anrufen, wenn selbst die 400 Seiten schweren Handbücher, die vom Innenministerium als Orientierungshilfe an die Beamten herausgegeben werden, nicht mehr weiterhelfen. Seit zwei Jahren arbeitet die gebürtige Salzburgerin für die Behörde. Bharti-Sharma schreibt gerade an ihrer Masterarbeit im Fach "Interkulturelle Kompetenzen". Sie gehört zu dem Viertel der MA35-Mitarbeiter mit Migrationshintergrund und ist mehrsprachig. Aber lange nicht alle Beamten sprechen Englisch auf Matura-Niveau. "Amtssprache ist halt Deutsch", sagt Bharti-Sharma, die auch Diversitätsbeauftragte ist. Als ihre Eltern 1978 von Indien nach Österreich gekommen waren, war alles noch einfacher. Damals gab es 2500 Schilling Begrüßungsgeld und einen Brief vom Bürgermeister, der sie willkommen geheißen hat.
Heute müssen beim Erstantrag für einen Aufenthaltstitel mehr als 13 verschiedene Unterlagen vorgelegt werden. Darunter etwa ein Strafregisterauszug aus dem Herkunftsland, der nicht älter als drei Monate sein darf, oder ein maximal sechs Monate altes biometrisches Passfoto.
Die Dokumente, die nicht in deutscher Sprache verfasst sind, müssen von einem Gerichtsdolmetscher übersetzt werden. Personen, die das sechste Lebensjahr vollendet haben, müssen bei der Antragstellung eines Aufenthaltstitels zudem die Fingerabdrücke abgenommen werden. Informationsblätter weisen zwar darauf hin, welche Unterlagen erforderlich sind. Ein einfacher Mietvertrag wird hier im Beamtendeutsch aber zu einem "Nachweis des Rechtsanspruchs auf eine in Österreich ortsübliche Unterkunft".
Die Antragssteller kommen aus der ganzen Welt und haben unterschiedlichste Bildungsabschlüsse. Da ist die Iranerin Sarah, die seit zwei Monaten versucht eine Rot-Weiß-Rot-Karte zu bekommen, um legal arbeiten zu dürfen. Ein Jobangebot hat die Akademikerin schon lange in der Tasche. Da ist die Nigerianerin mit spanischen Dokumenten, die seit sechs Monaten in Österreich ist und versucht, ein deutsches Informationsblatt zu entziffern; und der Pole Artur, der schon seit Stunden vergeblich darauf wartet, die Anmeldebescheinigung seiner Cousine abgeben zu können.
Faustdicke Akten und 40 Menschen im Wartezimmer
Bharti-Sharma sind die Hände gebunden. Sie exekutiert nur, was im Gesetz steht. Das teilt sie auch ihren Klienten immer wieder mit. Bis zu 40 Wartende betreut sie jeden Tag. Oft sind die Akten faustdick. "Ich muss mich mit der Geschichte des Kunden vertraut machen. Das kann oft bis zu zwei Stunden dauern." Sie sei zwar rechtskundig, aber keine Juristin. Oftmals müsse man deshalb mit dem Innenministerium Rücksprache halten oder einen Juristen anrufen.
Dann gebe es Anträge, die aus verschiedenen Gründen länger dauern, als andere. "Bei dem einen fehlt dann noch ein Zettel, bei einem anderen müssen wir auf einen Bescheid einer Behörde warten." Es komme etwa immer wieder vor, dass sich Antragssteller bei einer Polizeikontrolle nicht ausweisen konnten und dann im Strafregister geführt werden. Hier sei dann ein Bescheid der Fremdenpolizei notwendig, damit das Verfahren weitergeführt werden kann. Hinzu kommen Anträge über die Botschaft - alle zwei Wochen ein dicker Stapel Diplomatenpost - und viele Telefonate.
Beamtin fordert um ein Drittel mehr Personal
Wenn zehn Mal das Telefon schrillt, während sie Kunden betreut, fünf Wartende gleichzeitig ohne Wartenummer in ihr Büro platzen und E-Mails zu beantworten sind, gehe es rund. Man erlebe auch "arge" Geschichten und Schicksale. Kunden, denen sie mitteilen muss, dass ihr Aufenthalt nicht genehmigt wurde und diese ausreisen müssen. Manchmal werden Kunden handgreiflich. Bharti-Sharma gibt sich tapfer: "Wir haben nur zwei Hände. Man muss einfach durchhalten, das ist unser Job." Einen Wunsch hat sie: ein Drittel mehr Kollegen. "Personalressourcen sind keine bis wenig vorhanden", sagt die Beamtin.
Rechtsanwälte klagen über mühsame Verfahren
Während Bharti-Sharma im siebenten Stock Klienten abfertigt, sitzt zeitgleich Georg Bürstmayr, Fremdenrechtsanwalt und Nationalratskandidat für die Grünen, ein Stockwerk tiefer. Für seine Klienten ist er mit der MA 35 in Kontakt. Am Nachmittag wird er auf Facebook posten: "Résumé nach einem Vormittag in Wiens Magistratsabteilung 35: Kafka rules. Forever." Er nimmt Akteneinsicht in einem Staatsbürgerschaftsverfahren und ärgert sich, dass ein inhaltlich klares Verfahren wieder über Jahre verschleppt wurde.
Aber auch über den Einwanderungsbereich ärgert er sich. Ja, überfordert seien die Mitarbeiter der MA 35, aber oft auch unnötig kompliziert, sagt er zur "Wiener Zeitung". Manchmal sei es über zwei Wochen unmöglich, den zuständigen Beamten telefonisch zu erreichen.
Auch seine Anwaltskollegen finden die Zusammenarbeit mit der MA 35 mühsam und ineffizient. Ein Anwalt erzählt, dass seinem Klienten erst unlängst das Kopieren seines Aktes verweigert wurde. Das dürfe nur der Anwalt, hieß es am Telefon. "Das sind die Momente, wo man den Telefonhörer ungläubig auflegt", sagt er.
Fragt man MA35-Chefin Beatrix Hornschall, wer für die Personalnot verantwortlich ist, bleibt sie eine Antwort schuldig. Für sie ist nicht die Anzahl der Mitarbeiter der Grund für die Überlastung, sondern die ständigen Gesetzesnovellen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes.
So sieht man es auch im für die MA 35 zuständigen Stadtratsbüro für Integration und Personalfragen und schiebt somit die Verantwortung von sich. Zuständig für die Personalnot erklärt sich keiner der politischen Verantwortlichen. In der MA 35 explodieren einstweilen die Verfahren, die Telefone laufen weiter heiß.
400 Beamte arbeiten in der MA 35 in den Fachbereichen Einwanderung, Staatsbürgerschaft und Standesamt. Für die Einwanderung sind 150 Beamte - davon drei Juristen - zuständig.
Pro Jahr gibt es etwa 110.000 Neuanträge. Mitte Juni waren 37.600 Fälle offen.
Seit 2005 gab es 17 Gesetzesnovellen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes.