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Im Industriegebälk kracht es gewaltig

Von WZ-Korrespondentin Karin Rogalska

Wirtschaft

Das VW-"Dieselgate" ist nur die Spitze des Eisbergs in der deutschen Wirtschaft. Es fehlt an Innovation.


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Berlin. Nicht nur der scheinbar ungesteuerte Zustrom von Flüchtlingen macht den Deutschen in diesen Wochen zu schaffen. Mindestens ebenso schwer liegt ihnen das "Dieselgate" beim größten deutschen Konzern Volkswagen (VW) auf der Seele. Der Abgas-Skandal ist der vorläufige Schlusspunkt im existenziellen Ringen um die Zukunft eines guten halben Dutzends einst unverwüstlich erscheinender deutscher Großunternehmen.

Die Horrormeldungen über die Konsequenzen, welche die mutmaßlichen Manipulationen bei Abgaswerten in den USA nach sich ziehen können, reißen nicht ab. Seit der Aufdeckung des Skandals am 18. September wird beispielsweise nahezu täglich das Aus für oft millionenschwere Projekte vor allem im Sport vermeldet, die VW infolge der Unternehmenskrise nicht mehr sponsern will.

Zum Schicksal der bisher knapp 600.000 Beschäftigten hält sich die neue Konzernführung unter Matthias Müller bedeckt. Klar ist bisher nur, dass Marken zusammengeführt werden sollen, womit eine Entlassungswelle einhergehen könnte. Die Spekulationen enden längst nicht an den Werkstoren von VW. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der Konzern rund drei Milliarden Euro bei seinen zahlreichen Zulieferern einsparen will.

Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, selbst Mitglied im VW-Aufsichtsrat, wiegelt, was mögliche Folgen für das von ihm regierte Bundesland, das 20 Prozent der Konzernaktien hält, ab: Er sehe keine ernsthaften Risiken für den Haushalt von Niedersachsen. Doch derartige Aussagen scheinen nichts als gewagt in diesen Wochen, wo die VW-Aktien nahezu unablässig fallen. Außerdem vertrauen die Deutschen den eigenen Fahrzeugbauern seit September kaum noch. Die Branche, bisher unangefochten an der Spitze, liegt nach einer Umfrage des Verbandes der deutschen Kommunikationsagenturen GPRA gerade einmal noch auf Rang 13 unter 15 möglichen Plätzen. Hier schlagen sich offenbar Spekulationen nieder, es sei nur eine Frage der Zeit, wann Manipulationen auch bei der deutschen VW-Konkurrenz aufflögen.

Haushaltssperre in Wolfsburg

Besonders groß ist die Ungewissheit naturgemäß in Wolfsburg, wo VW seit 1938 ansässig ist. Zehn Tage nach Bekanntwerden des Skandals verhängte Oberbürgermeister Klaus Mohrs eine Haushaltssperre, weil deutliche Rückgänge bei den Gewerbesteuereinnahmen zu erwarten seien. Das ist milde ausgedrückt in einer Stadt, in der so gut wie nichts geschieht, ohne dass es VW finanziert hat. Der Automobilhersteller und seine Zulieferer zahlen bisher gut 70 Prozent der Gewerbesteuer, auf die Wolfsburg baut. Das Geschäft in Deutschland sei bisher nicht eingebrochen, heißt es dürr aus der Konzernzentrale. Damit scheint der Standort Wolfsburg ungefährdet. Doch niemand weiß in diesen Tagen, was rund um VW noch wahr ist. Einzig beruhigend ist, dass Wolfsburg dank VW nicht nur schuldenfrei ist, sondern über beachtliche finanzielle Reserven verfügt.

Der Skandal bei VW wird jedoch nicht nur negativ gesehen. Das führende Wirtschaftsmedium "Handelsblatt" deutet "Dieselgate" als Weg in die Moderne. Die Konzernführung sei nunmehr gezwungen, sich endlich zukunftsträchtigen Technologien, sprich dem weiten Feld der Elektromobilität, zuzuwenden, die sie bisher in geradezu sträflicher Weise vernachlässigt habe.

Das ist Wasser auf die Mühlen derer, die Deutschland inzwischen auf etlichen Gebieten für rückständig halten. Nach dem Globalen Innovationsindex der Weltorganisation für geistiges Eigentum (Wipo) hat Deutschland in den vergangenen Jahren kontinuierlich den Anschluss an die Weltspitze verloren. Die einst stolze Industrienation liegt gerade einmal auf Platz 12.

DAX im Sog des Dieselgates

Ein Blick auf den wichtigsten deutschen Aktienindex DAX verdeutlicht diesen Befund.

Knapp ein Drittel der im DAX gelisteten Großunternehmen sind entweder in den Sog von "Dieselgate" geraten oder gehören zu Branchen, die sich ohnedies schon länger in der Krise befinden. Hierhin gehört beispielsweise der größte deutsche Stahl- und Technologiekonzern ThyssenKrupp mit Sitz in Essen, der aktuell mit der Konzentration der weltweiten Stahlproduktion auf Südostasien konfrontiert ist.

Als Spezialfall gilt Siemens. Das Unternehmen selbst ist nicht nur nach eigenen Angaben bestens gerüstet für die Herausforderungen der Industrie 4.0, in der ganze Betriebsstätten ohne jedwedes Zutun von Menschen eigenständig produzieren können. Allerdings können die Münchner ihre technologische Überlegenheit im eigenen Land kaum ausspielen, weil beispielsweise ihre vielen mittelständischen Partner bis heute nicht nachgezogen haben.

Im Zusammenhang mit dem tiefgreifenden Wandel in der deutschen Industrie machen schon seit langem die beiden Energiekonzerne RWE und Eon, beide mit Sitz in Nordrhein-Westfalen, Schlagzeilen. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel verkündete zwar erst vor wenigen Tagen, die deutschen Energieversorger hätten zusammen 38,3 Milliarden Euro zurückgelegt, um die im März 2011 ausgerufene Energiewende, sprich die Verschrottung von Kernreaktoren, zu bewältigen. Trotzdem gelten RWE wie Eon als baldige Subventionskandidaten, weil sie zwar Reserven für die Beseitigung von Altlasten, aber keine Finanzkraft für Investitionen in neue Energien mehr haben.

Kommunen hängen an Aktien

Die Probleme der Unternehmen wirken sich verheerend für viele Kommunen in Nordrhein-Westfalen aus. Viele von ihnen sind langfristig an den Aktien der einst so gewinnträchtigen Energieversorger beteiligt. Seit Ausrufung der Energiewende ist der Wert der Beteiligungen jedoch drastisch gesunken. Damit hat sich vielerorts die Haushaltssituation verschärft. Das passt in das traurige Bild, dass die einstige Vorzeigeregion Ruhrpott heute liefert. Entlang der Autobahn A40 teilt sich die Region am sogenannten Sozialäquator in einen armen Norden, der einst durch Kohle, Stahl und Autobau glänzte, und den wohlhabenderen Süden, wo in den vergangenen Jahren einige IT-Unternehmen und Bildungseinrichtungen angesiedelt wurden.