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Im Karussell der Ausbeutung

Von Carsten Stormer

Reflexionen

Die Latrinenputzer in der indischen Stadt Lucknow nehmen ihr Schicksal, als "unrein" und "unberührbar" zu gelten, seit Generationen hin. Nun soll endlich offiziell Abhilfe geschaffen werden.


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Am Tag seiner Geburt stand fest, dass sich Naresh Kumars Leben zumeist in einer La-trine abspielen würde. Er huscht durch die Gassen des Gulab-Nagar-Viertels, ein Slum in der Großstadt Lucknow, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Uttar Pradesh. Er geht schnell, leicht gebeugt, macht sich klein, man übersieht ihn nahezu. In der linken Hand hält er einen Metalleimer, in dem halbflüssiger Kot schwappt und manchmal auf seine Kleider spritzt.

Seine rechte Hand umklammert eine sichelförmige Schaufel, mit der er Exkremente aus Trockenlatrinen kratzt. Um seinen Kopf hat er ein rötliches Tuch geschlungen, sein einziger Schutz gegen den Gestank, die Bazillen, die Fliegen. Er rennt über Abfallhaufen, springt über stinkende Pfützen, in denen schwarze Flüssigkeit in der Hitze verdunstet, klopft an Haustüren. Die Menschen, denen er unterwegs begegnet, drehen sich von ihm weg, halten sich die Nasen zu. Wenn er einen von ihnen aus Versehen berührt, wischen sie sich angewidert mit der Hand über die Stelle, als wäre dort ein Schmutzfleck. Denn Naresh Kumar, der Latrinenputzer, gilt als unrein. Und das liegt nicht am Kot.

Für 28 Euro im Monat

Schweiß läuft ihm in die Augen, die Kleidung klebt an seinem Körper wie ein nasses Laken. Vor einer Mauer kniet er sich nieder, öffnet eine kleine Luke, fährt mit der Schaufel hinein und löffelt die zähe, braune Masse in den Eimer, schippt Asche und Staub hinterher, damit sich der Kot bindet. Dann eilt er zum nächsten Haus, eine Wolke aus schwarzen Fliegen hinter sich herziehend. So geht das seit 15 Jahren, von Latrine zu Latrine, acht Stunden täglich, pausenlos. Es ist sein Dharma, seine Pflicht, sagt er. 2000 indische Rupien erhält er dafür im Monat, umgerechnet 28 Euro.

Das Schicksal hat es so bestimmt. Wie vor ihm schon das Leben seines Bruders, seiner Mutter, seiner Großeltern, der Urgroßeltern. Wie das Leben all seiner Vorfahren. Seit Jahrhunderten kratzen sie die Exkremente anderer Leute aus den Trockenlatrinen Indiens. Die indische Gesellschaft ist in Kasten mit unzähligen Gruppen und Subgruppen gegliedert. Naresh Kumar, dünn wie ein Besenstil, 36 Jahre alt, gehört zur Kaste der Balmiki, einer Unterkaste der Dalits, den Unberührbaren. (Siehe dazu Artikel auf Seite 4, Anm.)

Ein Heer von 300 Millionen Indern, denen ein gnadenloses Kastensystem vorschreibt, welche niederen Arbeiten sie zu verrichten haben; sie werden hineingeboren, ohne Aussicht auf Entkommen. Sie sind die Aussätzigen der Gesellschaft, und ganz am Ende der Hierarchie stehen die Latrinenputzer. Sie gelten als schmutzig, sie zu berühren bedeutet schlechtes Karma. Manche Leute waschen sich, wenn nur der Schatten eines Latrinenarbeiters auf sie fällt. Tiefer kann ein Mensch in Indien nicht sinken.

Es ist ein Gift, das über Jahrtausende in die Köpfe der Dalits gesickert ist. Es gibt ein Serum gegen dieses Gift, ein Gesetz, das Trockenlatrinen in Indien verbietet. Es ist ein gutes Gesetz, aber, wie so häufig in Indien, hält sich niemand daran. Korruption und Bürokratie verwässern die gute Absicht. Außerdem: Der bedingungslose Gehorsam an die uralten Traditionen ist tief in den Köpfen der Menschen verankert: bei den höheren Kasten, die von diesem System profitieren, und auch bei den Dalits, die es in den Jahrtausenden gelernt haben, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Ein Karussell der Ausbeutung, das sich immer weiter dreht, angetrieben von einem Motor aus Spiritualität.

Wie lange noch?

Die Organisation Safai Karmachari Andolan (SKA) hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ihre Mitstreiter bilden eine Art Schutzpatronat der Latrinenputzer, kämpfen gegen die Ausbeutung der Latrinenarbeiter und für deren Menschenwürde: meist Freiwillige und selbst ehemalige Latrinenputzer, arbeiten sie in den Slums, versuchen, in die Köpfe der Dalits einzudringen, indem sie sie davon überzeugen, keine Latrinen mehr zu putzen. Vor Gericht streiten sie sich für die Rechte der Latrinenputzer.

SKA organisiert Demonstrationen, auf denen Frauen in leuchtenden Saris symbolisch die Körbe verbrennen, in denen sie menschlichen Unrat sammeln. SKA zieht Parlamentsabgeordnete auf ihre Seite, nutzt die Presse, um auf das Schicksal der Dalits aufmerksam zu machen. Mit Erfolg. Zehntausende Latrinenputzer hat SKA inzwischen aus dieser Abhängigkeit befreit.

Es gibt staatlich geförderte Umschulungs- und Förderprogramme. Und der indische Präsident hat öffentlich versprochen, dass bis zum Ende des Jahres 2012 kein Dalit mehr Trockenlatrinen putzen wird. Denn das verstoße gegen die Verfassung. Der Kampf ist fast gewonnen, glauben die Mitarbeiter von SKA. Die Frage ist nicht ob, sondern wann die letzte Trockenlatrine in Indien verschwindet.

Einer dieser Kämpfer ist Ajay Prakesh, ein 26-jähriger Dalit, der ein frisch gewaschenes Hemd und eine gebügelte Bundfaltenhose trägt, als wolle er ein bisschen Eleganz in das Elend dieses Slums tragen. Scheinbar ziellos rennt er durch die verwinkelten Gassen, fragt Anwohner, ob es hier Latrinenputzer gibt und wo er diese finden könne. Meistens erntet er nur verständnisloses Kopfschütteln.

Beratung unterm Baum

Nach drei Stunden Suchen trifft er Naresh Kumar, der eine Trockenlatrine am Rande eines Müllberges entleert, flüstert ihm etwas ins Ohr und zieht ihn anschließend unter eine Würgefeige.

Dort sitzen sie gemeinsam im Schatten des Baumes. Naresh Kumar erzählt, Ajay Prakesh hört zu, nickt manchmal zustimmend, legt ihm einen Arm um die Schulter. Naresh Kumar erzählt von den ständigen Kopfschmerzen, dass er pausenlos krank sei, sich die Medikamente nicht leisten könne. "Ich habe meinen Appetit verloren. Nach dem Essen muss ich mich oft übergeben." Die Nebenwirkungen eines Lebens, das in den Ausscheidungen anderer Menschen stattfindet. Der SKA-Mann erzählt von den Förderprogrammen der Regierung, von all den Erfolgsgeschichten ehemaliger Latrinenarbeiter, die ein Darlehen bekommen haben und nun Nähmaschinen reparieren, Schweine züchten, Kleider schneidern - denjenigen, denen es jetzt besser als vorher geht, die mehr verdienen und ihre Würde zurückerobert haben.

Anhaftendes Stigma

"Naresh, diese Programme sind auch für dich da. Niemand zwingt dich dazu, die Latrinen zu säubern!" Misstrauen blitzt in Naresh Kumars Gesicht auf, als wolle ihm sein Gegenüber etwas andrehen, was er nicht kaufen möchte. "Du musst es nur wollen, Naresh!" Dieser verspricht, darüber nachzudenken, aber "wer würde mich denn schon anstellen? Ich bin ein Dalit. Wie soll ich meine Familie ernähren? Für uns gibt es nur diese Arbeit." Dann verabschiedet er sich, er müsse weiter. Die Latrinen warten, und deren Besitzer werden wütend, wenn er diese nicht rechtzeitig entleert. "Dann bezahlen sie mich vielleicht nicht."

Der Weg in die Köpfe ist weit, meint Ajay Prakesh. Veränderung erzeugt Irritation, Unsicherheit. "Sie glauben, das Stigma hafte an ihnen wie die Schmeißfliegen am Kot, den sie einsammeln."

Am Ende seines Arbeitstages sinkt Naresh Kumar erschöpft auf einen Gehsteig, faltet die Beine in den Schneidersitz und schüttelt sich angeekelt, als er die Kotspritzer auf seinem Hemd entdeckt. Der ausgewischte Eimer steht neben ihm und verströmt den Geruch der Latrinen. Ein paar Minuten später setzt sich seine Frau Meena zu ihm auf den Boden, 38 Jahre alt und mit dem Gesicht einer alten Frau. Auch sie ist Latrinenarbeiterin. Sie sprechen kein Wort, starren einfach nur auf einen unbestimmten Punkt am Ende der Straße. Synchronisiertes Schweigen, jahrelang geübt. Ein Ritual, bevor sie gemeinsam zu ihren vier Kindern heimkehren. Auch sie haben in ihrem Haus eine Trockenlatrine.

Wovon träumst du?

"Ich habe schon lange aufgehört zu träumen."

Er vergräbt sein schmales Gesicht in zierlichen Händen. Sein größter Wunsch: dass es seine Kinder einmal besser haben sollen als er, dass sie die Schule beenden, "dann könnten sie vielleicht Straßenkehrer werden". Nur nicht in den Latrinen landen, "kein Mensch sollte diese Arbeit verrichten". Und dass es in jedem Haus eine Toilette mit Klospülung gibt. Irgendwann.

Carsten Stormer, geboren 1973, ist als freier Journalist und Fotograf tätig und vor allem in Asien unterwegs. Zuletzt ist von ihm das Buch "Das Leben ist ein wildes Tier: Wie ich die Gefahr suchte und mich selber fand" (Lübbe Verlag, 2011) erschienen.