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Im Kessel gefangen

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Hassans Mühlen sichern das Überleben im syrischen Kurdengebiet - es ist seine Art des Widerstands gegen Assad und IS.


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Kamischli. In der Luft hängt weißer Mehlstaub. Das ganze rohe Gebäude mit seinen vier Stockwerken scheint zu vibrieren. Ohrenbetäubendes Brummen und Schleifen der Siebe und Walzen unterbindet jedes Gespräch. Röhrende Dieselmotoren übertragen ihre Kraft mit Transmissionsriemen auf die Mahlgestänge der Weizenmühle im Norden Syriens direkt an der türkischen Grenze. Ein Gewirr von Plastikrohren transportiert Korn, halb gemahlenes und fertiges Mehl von Geschoß zu Geschoß. Über Betontreppen ohne Geländer schleppen Arbeiter Mehlsäcke hinaus zu einem Lastwagen. Ringsum dehnen sich endlose Weizenfelder. Nur eine staubige Straße durchzieht die weite Ebene von der Kleinstadt Amuda in die Kurdenmetropole Kamischli.

"Wir Kurden kämpfen hier jeden Tag aufs Neue darum, eine Zukunft zu haben", sagt Hamo Hassan, 53, der Mühlenunternehmer, ein kleiner, schnauzbärtiger Mann mit schütter werdendem Haar. "Mehl bedeutet für uns Überleben. Mehl bedeutet Brot. Deshalb ist es lebenswichtig, dass meine Mühle funktioniert."

Sie scheint von der Welt vergessen, die landwirtschaftlich geprägte Region Cizre, größte der drei voneinander getrennten kurdischen Enklaven in Syrien, die sich im November mit dem Namen "Rojava" für unabhängig erklärt haben. In Cizre leben rund 1,8 Millionen Menschen, davon 400.000 Kriegsflüchtlinge aus anderen Teilen des Landes. Die Kurden und mit ihnen tausende Araber, Armenier, Aramäer, Assyrer, Tscherkessen sind hier seit Beginn des Bürgerkriegs in einer Art Kessel gefangen. "Wir sind Opfer einer unbarmherzigen Totalblockade", sagt der studierte Physiker Hassan. "Im Norden die türkische Grenze, im Südosten die kurdische Autonomieregierung des Irak und im Osten und Süden die Dschihadisten."

Die Türkei kappte im Frühjahr 2012 alle Verbindungen über die Grenze, weil in den syrischen Kurdengebieten die Demokratische Unionspartei (PYD), ein Ableger der türkischen Kurdenguerilla PKK, die Macht übernahm. Ankara fürchtet ein Übergreifen der Autonomiebestrebungen auf die Türkei. Selbst humanitäre Hilfslieferungen werden nur ausnahmsweise durchgelassen, sodass ihr Inhalt oft in den Lastwagen vermodert. Im Südosten ist das Gebiet ebenfalls abgeschnitten, weil die konservative Regierung des nordirakischen Kurdenführers Masud Barsani die linksorientierte PYD politisch bekämpft.

Alle drei kurdischen Enklaven werden seit Monaten von schwer bewaffneten Kämpfern des "Islamischen Staates" (IS), vormals Isis, belagert, die damit versuchen, ihr "Kalifat" bis an die türkische Grenze auszudehnen. In der Enklave Kobani wären die Extremisten vorvergangene Woche fast durchgebrochen - bis hunderte Kurden aus der Türkei einem Aufruf der PKK folgten, den Grenzzaun niederrissen und zur Verstärkung an die Front strömten. "Es gibt keinen Ausweg für uns", sagt Hamo Hassan, "nur Flucht unter schwierigsten Bedingungen, Unterwerfung, Tod - oder Widerstand."

Noch behaupten sich die Kurden trotz großer Verluste mit entschlossenem Willen. Das hat Gründe, die nicht nur militärisch sind. In Cizre heißt einer der wichtigen Hamo Hassan. Der wohlhabende Unternehmer beschloss vor anderthalb Jahren, statt mit der Familie ins Ausland zu fliehen lieber zu bleiben und etwas für seine Landsleute zu tun. "Ich bin ein Patriot. Ich hatte allerdings nie daran gedacht, Müller zu werden", erzählt er in dem Bauwagen vor der Fabrik, der ihm als Büro dient.

Fragiler Waffenstillstand

Abgeschnitten von der Versorgung aus dem Süden, waren die Kurden in den Enklaven im syrischen Norden auf sich selbst gestellt. Maximal 400 Tonnen Mehl erzeugen zwei Großmühlen in der inoffiziellen kurdischen Hauptstadt Kamischli und der ethnisch gemischten Metropole Hasakah am Tag. Es gehört zu den Seltsamkeiten im Bürgerkriegs-Syrien, dass diese beiden großen Mühlen im Kurdengebiet noch immer unter dem Kommando des Assad-Regimes in Damaskus stehen. Die Mitarbeiter beziehen ihr Gehalt von monatlich umgerechnet 100 Euro wie früher aus Damaskus - als gäbe es den Krieg nicht und als seien die kurdischen Volksverteidigungseinheiten nicht immer wieder in Gefechte mit der Assad-Armee verwickelt. Tatsächlich verschont ein fragiler Waffenstillstand mit dem Regime die Kurdenregion bisher vor den gefürchteten Luftangriffen und den tödlichen Fassbomben, die täglich auf Aleppo und andere Städte niedergehen.

"Die kurdische Region brauchte unbedingt mehr Mehl, vor allem, um die große Anzahl an Flüchtlingen mit zu versorgen. Die Lage war dramatisch", sagt Hamo Hassan. "Es fehlten 300 Tonnen Mehl täglich. Das Brot wurde knapp. Die PYD-Führung bat mich zu helfen. Und so kam ich auf die Idee, eine Mühle zu bauen."

Hassan kannte das Geschäft mit Mehl. Er besaß den Unternehmergeist, das nötige Geld, das Know-how und die Kontakte ins Ausland. In seiner Heimatstadt Hasakah hatte er vor zehn Jahren sein erstes Unternehmen, eine Spaghettifabrik mit 25 Angestellten, aufgebaut. Im Frühjahr 2013 gelang es ihm in letzter Sekunde, die benötigten Maschinen über den syrischen Mittelmeerhafen Latakia einzuführen und auf dem Landweg nach Amuda zu bringen. Inzwischen sind die Straßen wegen der Kämpfe nur noch unter Lebensgefahr passierbar. "Wir können von Glück sagen, dass wir unsere Mühlen und Generatoren haben. Deutsche Geräte", sagt Hamo Hassan stolz.

Im letzten Herbst war es dann so weit. Hassan warf seine Maschinen an, die Mühle in Amuda begann zu rattern. Was der Unternehmer und seine 40 Mitarbeiter seither produzieren, ist mit 100 Tonnen pro Tag zwar deutlich mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein, aber trotzdem nicht genug für die Versorgung von ganz Cizre. "Viele Leute auf dem Land holen inzwischen wieder die alten Mühlsteine aus dem Schuppen und mahlen ihr eigenes Mehl wie vor hundert Jahren", sagt Hassan. Improvisieren muss auch er. "Wenn in den Mühlen eine Maschine ausfällt, müssen wir die Ersatzteile unter Lebensgefahr aus der Türkei besorgen." Schmuggler werden inzwischen von der türkischen Armee attackiert. Vor zwei Wochen starben bei einem Gefecht sechs Kurden und drei türkische Soldaten.

Der Krieg hatte die Region Cizre nicht nur von der Außenwelt, sondern auch von den Kraftwerken im Süden abgeschnitten. Strom ist Mangelware in allen Kurdengebieten. Doch in Cizre herrschte ein monatelanger totaler Blackout, bis es den Ingenieuren im Frühsommer 2013 mit viel Improvisationskunst gelang, ein bereits stillgelegtes Kraftwerk wieder hochzufahren und mit Schweröl zu betreiben. Trotzdem gibt es bis heute nur drei bis vier Stunden Elektrizität am Tag. Deshalb hatte Hassan eigene Generatoren in Latakia gekauft. "Die PYD sichert meine Dieselversorgung, sonst würden die Maschinen nicht funktionieren", sagt er.

Nicht nur die Mühlen, sondern auch die Spitäler und wichtigsten Produktionsanlagen werden mit selbst produziertem Diesel versorgt. Zwar kontrollieren die Kurden mehr als die Hälfte der syrischen Ölfelder an der Grenze zum Nordirak, doch sie haben nicht viel davon. Es gibt in ihrem Gebiet keine Großraffinerie, und sie können das Öl nicht zur Raffinerie bei Homs und zum Mittelmeer schicken, denn die einzige Pipeline führt durch von IS-Dschihadisten kontrollierte Gebiete. Deshalb haben sie die Ölförderung so gut wie eingestellt.

Probleme mit Barsani

Als Unternehmer ist Hamo Hassan einer der wenigen Kurden in Cizre, die nicht jede Lira umdrehen müssen. Er kann es sich noch leisten, Gäste in seinem uralten Lehmhaus mit Holzbalkendecke im nahe gelegenen Dorf Briva zu bewirten: mit gebratenem Truthahn, Reis, Salat und selbst gebackenem Brot. Zum Essen hat er sieben Mühleningenieure eingeladen und seinen Partner Kime Ibrahim, einen pfiffigen jungen Mann, im Hauptberuf Rechtsanwalt. Ibrahim ist es gelungen, fünf Kleinmühlen in Cizre aufzubauen, die täglich je zehn Tonnen Mehl produzieren. "Spitzenqualität", sagt er. Sein Mehl wird ebenso wie Hassans Produkt auf dem freien Markt verkauft und kostet dort das Sechsfache des preisgebundenen Regime-Mehls. Mit dem Gewinn können die Partner ihre Arbeiter deutlich besser bezahlen, als es in der verarmten Provinz unter Kriegsbedingungen üblich ist. Kime Ibrahim hat noch viel weiter gedacht. Er war vor einem halben Jahr im Nordirak und hat dort Verträge über Mehllieferungen abgeschlossen, die die bestehende Lücke in der Nachfrage schließen würden - doch der Deal scheitert daran, dass auch die Grenze im Südosten für Importe dicht ist. "Das ganze Mehl könnte sofort kommen, es wäre genug da, aber die Barsani-Regierung verweigert uns die Einfuhrgenehmigung", sagt Ibrahim und breitet die Arme fragend aus.

Das Leben in Rojava ist für Hassan wie ein Balanceakt auf einem dünnen Seil. "Noch ernten die Bauern den Weizen. Aber schon in diesem Jahr wird es schwer werden, genug Weizen zu produzieren, denn uns geht der Dünger aus. Außerdem fehlen uns die Chemikalien zur Konservierung in den Speichern", sagt Hamo Hassan. Ebenso wie die Großmühlen beziehen die beiden Mittelständler ihr Korn von Arabern aus der Umgebung, die einst als die Kornkammer Syriens galt. Allerdings trauen sie den Nachbarn nicht wirklich über den Weg. "Sie wurden seit den 1960er Jahren hier angesiedelt, als vielen Kurden ihr Land genommen und es den Arabern gegeben wurde", erzählt Kime Ibrahim. "Jetzt sind die Araber froh, dass wir Kurden den Frieden bewahren und keine Menschen hier sterben. Aber ich halte es jeden Moment für möglich, dass sie sich den Islamisten anschließen - wie es neulich in dem Ort Tal Hamis geschah."

Nach dem Essen nimmt Hamo Hassan seine Gäste noch einmal mit zur Mühle. Von oben kann man die türkische Grenze gut überblicken, die hier gerade 200 Meter entfernt und auf der türkischen Seite mit Stacheldraht und Wachtürmen gesichert ist. Hamo Hassan hofft noch immer auf die Einsicht der Türkei, dass es besser ist, mit dem Nachbarn Geschäfte zu machen, als ihn auszuhungern. "Je früher, desto besser. Bis dahin müssen wir kämpfen. Jeden Tag."