Mit dem Ausbruch der Ukraine-Krise hat sich auch das politische Klima in Russland verschärft. Viele russische Kreml-Kritiker zieht es ins Nachbarland.
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Kiew. Als Olga Kurnosowa im Dezember 2013 auf dem Maidan stand und Parolen in den Nachthimmel schrie, wusste sie nicht, unter welchen Umständen sie später wiederkehren würde. Heute, mehr als eineinhalb Jahre nach den denkwürdigen Ereignissen am Kiewer Unabhängigkeitsplatz, steht sie wieder an der Flaniermeile Chreschtschatyk, wenige Meter vom Unabhängigkeitsplatz entfernt. Aber nicht als politische Rednerin, sondern als politischer Flüchtling.
Die 54-Jährige ist eine bekannte Größe in der russischen Oppositionsbewegung. In den 1990er Jahren saß sie als Abgeordnete im St. Petersburger Stadtrat, später organisierte sie den "Marsch der Unzufriedenen" in St. Petersburg. Wie viele in der russischen Opposition sympathisierte auch sie mit der Maidan-Bewegung in der Ukraine und stand auch selbst als Rednerin auf deren Bühne. In Moskau gründete sie das "Komitee zur Solidarität mit dem Maidan".
Doch mit dem Krieg im Donbass spitzte sich die Lage auch für Kurnosowa zu: Immer wieder drangen Sicherheitskräfte in ihre Wohnung ein. Zwei Monate lang führte sie ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. "Am Ende konnte ich nicht länger als drei Nächte bei Freunden bleiben, sofort kam die Polizei", erzählt Kurnosowa. "Da wurde mir klar, dass es Zeit ist, zu gehen." Im Oktober 2014 floh sie nach Kiew - über Weißrussland, um russische Grenzkontrollen zu vermeiden. Seither lebt sie in Kiew.
Politisches Asyl
Kurnosowa ist kein Einzelfall. Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele Russen in den vergangenen Monaten aufgrund des steigenden politischen Drucks aus Russland in die Ukraine geflüchtet sind. Zumindest 130 Personen - vor allem Politiker, Journalisten und Unternehmer - haben laut Daten der ukrainischen Migrationsbehörde um politisches Asyl in der Ukraine angesucht. "Es gibt nicht wenige russische Intellektuelle, die in den ukrainischen Städten eine Hoffnung für die Zukunft der russischen Kultur sehen", schrieb zuletzt der Historiker Timothy Snyder in einem Beitrag.
Einer von ihnen ist auch Anton Tschadskij. Eigentlich kam der 28-jährige Russe nur für ein Fernseh-Interview nach Kiew, um über seine Karikaturen - den "Watnik" - zu sprechen. Tschadskij zeichnet seit Jahren Karikaturen über die Stimmungslage in der russischen Gesellschaft - kleine, launische Würfelfiguren, die Putin lieben und den Westen hassen. Vor allem nach den Ereignissen am Maidan wurden seine Figuren zum Hit in den russischen sozialen Medien. Inzwischen hat der "Watnik" sogar Eingang in den russischen Sprachgebrauch gefunden. In Kiew erfuhr Tschadskij, dass gegen ihn in Russland ein Verfahren wegen "Volksverhetzung" eingeleitet wurde. Also entschied auch er, in Kiew zu bleiben.
Wenn Tschadskij, der aus der südrussischen Stadt Noworossijsk kommt, über Kiew redet, kommt er ins Schwärmen. "Ich habe hier als Russe überhaupt keine Probleme erfahren - weder sprachlich noch kulturell. Hier habe ich sofort Gleichgesinnte getroffen." Kein Wunder, fallen doch hier Tschadskijs bitterböse Satire-Zeichnungen, die der "russischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten sollen", auf fruchtbaren Boden. Im Frühling hat er in Kiew sogar seine erste Ausstellung eröffnet. "Ich denke, dass Kiew ein Magnet für oppositionelle Russen geworden ist", sagt Tschadskij. "Und umgekehrt ist auch die Ukraine loyal mit der russischen Opposition."
Aber nicht nur Politiker und Kreative, sondern vor allem auch Journalisten und Publizisten haben zuletzt Russland verlassen, um in Kiew neu anzufangen. Die ukrainische Medienlandschaft wird zwar stark von Oligarchen kontrolliert, ist dadurch aber zugleich pluralistisch und relativ frei. Als ein Buch des russischen Satirikers Wiktor Schenderowitsch aus den russischen Bücherregalen verschwand, ließ er es schlichtweg in Kiew publizieren - auf Russisch.
Mit dem zunehmenden Druck auf unabhängige Medien in Russland hat sich auch der Zuzug in die Ukraine verstärkt, sagt Jekaterina Sergazkowa. Die russische Journalistin kam vor sechs Jahren auf die Krim, da ihre Heimatredaktion in Wolgograd auf Druck der Behörden geschlossen wurde. "Der Druck auf die Medien hat in der russischen Provinz viel früher angefangen als etwa in Moskau oder St. Petersburg", sagt Sergazkowa. Bis zuletzt pendelte sie zwischen Simferopol und Kiew hin und her. Seit sie im Jänner dieses Jahres im russischen Fernsehen als Vaterlandsverräterin geschmäht wurde, ist sie allerdings nicht mehr auf die Krim gefahren.
Sergazwoka machte sich zuletzt vor allem mit ihren Berichten aus den Separatistengebieten einen Namen. So sehr, dass ihr im Frühling von Präsident Petro Poroschenko die ukrainische Staatsbürgerschaft verliehen wurde. "Die ukrainische Staatsbürgerschaft ist für mich eine Frage der Sicherheit", sagt Sergazwoka. "Es kann gefährlich sein, als russische Staatsbürgerin für ukrainische Medien zu schreiben. Ich könnte in Russland juristisch verfolgt werden."
"Nütze niemandem im Gefängnis"
Doch längst nicht alle Russen, die wegen Repressionen aus Russland geflüchtet sind, haben die ukrainische Staatsbürgerschaft erhalten. So haben seit Ausbruch der Ukraine-Krise erst drei politisch verfolgte Russen einen ukrainischen Pass erhalten. "Ich werde veranlassen, das Prozedere für jene Bürger zu erleichtern, die in ihrer Heimat verfolgt werden - insbesondere russische Staatsbürger, um ihnen die ukrainische Staatsbürgerschaft sowie politisches Asyl zu gewähren", sagte Poroschenko bei der feierlichen Übergabe der Staatsbürgerschaft an Sergazkowa. Das war im April, bis dato wurde allerdings nichts geändert.
Derweil setzen die russischen Emigranten ihre Arbeit fort. Tschadskij zeichnet weiter seine Karikaturen und will weiterhin "Widerstand gegen die russische Propaganda" leisten, wie er selbst sagt. Kurnosowa koordiniert Protestaktionen in Russland - nicht vor Ort, aber über den Chat-Dienst Viber. "So paradox das auch klingen mag: Die Flucht hierher war die Entscheidung, auf die Lage in Russland einzuwirken", sagt Kurnosowa. "Wenn ich in Russland im Gefängnis sitze, nütze ich niemandem." Auf dem Maidan, dort, wo Kurnosowa noch vor eineinhalb Jahren ihre Reden hielt, wurde inzwischen ein kleiner Gedenkstand für den im Februar ermordeten russischen Oppositionellen Boris Nemzow eingerichtet. "Zugleich ist die Ukraine das Land, in dem Krieg herrscht. Das wird uns Oppositionelle nicht dazu verleiten, mit unserem Einsatz nachzulassen."