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Im Klub der rosaroten Brillenträger

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Dass eine krisenhafte Zeit mit einer Krise der Öffentlichkeit zusammenfällt, ist ziemlich sicher kein Zufall.


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Dass eine krisenhafte Zeit des Umbruchs mit einer Krise der Öffentlichkeit zusammenfällt, ist ziemlich sicher kein Zufall. Und Letzteres macht die Bewältigung von Ersterem nicht einfacher. Wo eingehende und kontroverse Debatten notwendig wären, müssen Karikaturen derselben als Ersatz herhalten. Das reicht von der Lastenverteilung bei der Klimawende über die unbequemen Details der schnellen Abkoppelung von russischen Energieimporten bis zu Erfordernissen einer souveränen Europäischen Union. Wer glaubt, solche Bedingungen würden der Politik ihr Geschäft erleichtern, irrt gewaltig.

Wenn Österreichs Eliten - und dazu zählen nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch die Medien - Europameister in der Disziplin sind, eine größere Wirklichkeit, die zur eigenen Sehnsucht nach Gemütlichkeit im Widerspruch steht, nur mit Auslassungen oder Schönfärberei zur Kenntnis zu nehmen, dann ist Europa Kandidat für den Weltmeistertitel. Mit einer solchen Haltung ließ es sich bisher ganz ordentlich durchlavieren; jetzt allerdings nicht mehr.

Warum? "Weil wir damit nicht länger durchkommen werden." Den Satz sagte Sigmar Gabriel beim Pfingstdialog 2022 im steirischen Schloss Seggau. Der ehemalige deutsche Vizekanzler hat in dieser Frage durchaus Glaubwürdigkeit. Schließlich war Gabriel selbst lange Mitglied im Klub der rosaroten Brillenträger. Das betrifft insbesondere die Frage nach Russland unter Wladimir Putin. Während Gabriel seinen Irrtum offen eingesteht, will sein Mentor, Deutschlands Ex-Kanzler Gerhard Schröder, nicht von Putins Seite weichen. Sein der "New York Times" ins Mikrofon gesprochener Satz "I don’t do mea culpa" wird im Zitatenschatz unserer Zeit landen.

Allerdings sind Zweifel an Gabriels Gewissheit angebracht, dass die Bürger sich nicht länger durch Schönfärberei einlullen lassen wollen. Immerhin entsprach dies oft der Unlust vieler, nicht zu sehr aus der wohlig eingerichteten Bequemlichkeit herausgerissen zu werden. Und zu oft begnügten sich auch die Medien, zu deren Geschäftsgrundlage eigentlich lebendige Debatten zählen sollten, mit der Karikatur einer offenen Auseinandersetzung um zentrale Themen.

Es war übrigens der scheidende steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, der in Seggau ausdrücklich die Notwendigkeit eines konstruktiven Dissenses betonte. Von diesem ist Österreich meilenweit entfernt. Dabei würde er der Politik helfen.