Zahlreiche Fluchthelfer aus Österreich fahren derzeit Flüchtlinge aus Ungarn über die Grenze.
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Wien/Györ. Es fühlt sich ein bisschen an wie 1989. Damals bröckelte der Kommunismus gewaltig und auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs machten sich immer mehr Menschen in Richtung Westen auf. Etwas mehr als 30 Personen mit 18 Autos haben sich am frühen Donnerstagabend auf dem Parkplatz neben dem Praterstadion versammelt. In Kürze wird sich ihr Konvoi in Richtung Györ, Ungarn, in Bewegung setzen. Nur sechs Stunden später werden diese Menschen 84 Flüchtlinge, hauptsächlich Familien mit Kindern, über die österreichisch-ungarische Grenze geholfen haben.
"Bitte bleibt zusammen. Wenn es geht, nehmt Familien mit kleinen Kindern und Ältere mit. Sie überstehen die langen Fußmärsche weniger gut. Und sie haben Angst, voneinander getrennt zu werden". El, die an diesem Tag die Koordination im Konvoi übernommen hat, gibt noch letzte Anweisungen. Die Versammelten - unter ihnen sind Studenten, Universitätsmitarbeiter, Sozialarbeiter und Aktivisten - hören aufmerksam zu.
Geschätzte 130.000 Schutzsuchende halten sich derzeit in Ungarn auf. Das Land ist ob der tausenden Schutzsuchenden, die täglich über Serbien einreisen, unter Druck. Die Lage für die Flüchtlinge spitzt sich weiter zu. Viele nächtigen im Freien und auf Bahnhöfen, die Flüchtlingslager sind überfüllt, Asylsuchende werden immer wieder eingesperrt. Zudem hat die ungarische Regierung ihre Asylgesetze verschärt. Ministerpräsident Victor Orban hat angekündigt, jeden Flüchtling "sofort zu verhaften" , der illegal einreist. "Jetzt wollen natürlich alle raus", sagt Can Gülcü, einer der Mitorganisatoren des Privatkonvois, der am Sonntag und Donnerstag Flüchtlinge in Privatautos von Ungarn nach Österreich gebracht hat. Er ist Co-Leiter des Kulturfestivals Wienwoche und engagiert sich für Flüchtlinge und gegen Rassismus. Zur Aktion haben er und einige seiner Freunde über die sozialen Medien aufgerufen.
Zwischen Recht und richtig
"Es ist einfach das Richtige. Man muss diese Menschen unterstützen, von dort wegzukommen, weil die Lage in Ungarn immer schlimmer wird", erzählt Can. In seinem Rückspiegel werden die pannonischen Windräder immer kleiner. Vor ihm leuchtet Blaulicht.
Die Linie zwischen Recht und richtig ist dieser Tage sehr dünn. Denn streng genommen übertreten Can und die anderen Fluchthelfer bei jeder Fahrt mit Fliehenden auf dem Rücksitz das Gesetz. Denn "wer wissentlich die rechtswidrige Einreise eines Fremden in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union fördert", muss nach Paragraf 120 des Fremdenpolizeigesetzes in Österreich mit einer Verwaltungsstrafe von rund 1000 Euro rechnen. In Ungarn droht sogar Haft.
"Trotz des Ausnahmezustandes gelten die Gesetze", sagt Wolfgang Bachkönig, Sprecher der burgenländischen Polizei. Doch im Flüchtlingssommer gelten andere Regeln. Die Polizei auf beiden Seiten der Grenze hat wenig Interesse an den Helfern. Die ungarischen Beamten lassen sie gewähren, denn jeder mitgenommene Asylsuchende ist einer weniger. Und die österreichischen Beamten haben mit den vielen Neuankömmlingen und echten Schleppern, die für 1000 Euro Menschen in Kastenwagen quetschen, alle Hände voll zu tun. Am Sonntag habe ein Teil des Konvois sogar freies Geleit von der burgenländischen Polizei bekommen, erzählt ein Aktivist. "Die Kontrollen richten sich nach den Kapazitäten und nach der Verhältnismäßigkeit", sagt Karl-Heinz Grundböck, Sprecher des Innenministeriums. Cans Handy piepst unentwegt. Informationen über Polizeieinsätze und die Lage auf beiden Seiten der Grenze werden ausgetauscht. Der Konvoi nähert sich dem Bahnhof in Györ. Ein Dutzend Polizisten patrouilliert vor dem Eingang und zeigt wenig Interesse für die ankommenden Helfer.
Ein weiteres Dutzend Journalisten filmt das Treiben. Nur Flüchtlinge sind keine zu sehen. Sie haben den Bahnhof auf eigene Faust in Richtung Österreich verlassen oder wurden ins Flüchtlingslager Vamosszabadi nahe der slowakischen Grenze gebracht. Im Konvoi spricht sich herum, dass zahlreiche Flüchtlinge auf der Landstraße zum Lager zu Fuß aufgebrochen sind. Von dort wollen sie die Helfer nun abholen. "Klar haben wir Angst, dass wir aufgehalten werden und Stress bekommen. Aber das Bewusstsein für die dringende Notwendigkeit ist größer als das Gefühl der Angst", wiederholt Can. Die Autos biegen auf die E575 in Richtung Lager ein. Hunderte Flüchtlinge kommen dem Konvoi im Dunkeln am Straßenrand zu Fuß entgegen. Väter tragen ihre teils schlafenden Babys. Frauen ziehen ihre müden Kinder hinterher. Gruppen von jungen Männern mit Plastiksackerln marschieren durch den Nieselregen.
Misstrauen und Angst
Einige Autos halten an und bieten den Menschen auf der Straße ihre Hilfe an. Aber helfen ist hier nicht ganz einfach. "No taxi, no!", sagt ein Familienvater mit Frau und drei Kindern. Taxi ist in dieser Gegend das Codewort für Schlepper, erklärt Can. Neben den freiwilligen Helfern werben hier auch Schlepper im strafrechtlichen Sinn um Flüchtlinge, die sie für Geld über die Grenze schmuggeln.
Die Menschen sind verängstigt und misstrauisch. Sie haben Angst, dass sie auch in Österreich in Lager gebracht werden. Einige trauen sich nicht in die Autos und marschieren lieber zu Fuß weiter. Can spricht eine Familie auf Englisch an und versucht ihr zu erklären, dass er sie sicher nach Wien bringen kann. "No money", sagt er. Die Frau mit ihrer etwa vierjährigen Tochter, ihr Ehemann, Bruder und zwei weitere Verwandte zögern etwas. Schließlich steigen sie ins Auto. Nur einer spricht Englisch.
Can fragt nur, woher sie kommen und wohin sie wollen. "Aus dem Iran. Wir wollen nach Stuttgart, meine Eltern sind dort", erklärt der Bruder der Frau. Zwei Wochen waren sie in Ungarn. Ihre Chancen in Deutschland Asyl zu bekommen stehen schlecht. Der Iran gilt mittlerweile als sicheres Land und es ist gut möglich, dass die Familie in ein paar Monaten dorthin abgeschoben wird. In vielen Autos ist es die meiste Zeit über still. Nicht alle Schutzsuchenden wollen ihre Leidensgeschichte erzählen, viele sprechen nur ihre Muttersprache. "Es ist mir unangenehm, die Leute auszufragen und nachzubohren. Sie haben schon ihre Gründe, warum sie fliehen", sagt Can.
Auf den Rücksitz tuschelt die Familie leise. Der junge Mann erkundigt sich höflich, wohin die Reise genau geht. Nur das kleine Mädchen hat keine Angst und greift vergnüg nach einer Packung Zuckerl. Kurze Zeit später sind die Fahrgäste eingeschlafen. Ein ganz leises Schnarchen ertönt. Nur der junge Mann ganz hinten hat ein wachsames Auge auf die Fahrbahn und den Fahrer. Kurz vor Wien schläft auch er ein. Das Auto zieht an etwa 15 Bussen vorbei, die mit Polizeibegleitung laut Innenministerium etwa 1000 Flüchtlinge vom überfüllten Bahnhof Nickelsdorf nach Wien in Notquartiere bringen.
Der Konvoi hat sich aufgelöst. Zwei Autos bringen ihre Mitfahrenden um Mitternacht zum Westbahnhof, wo die Flüchtlinge von Caritas und Samariterbund betreut werden. Das kleine Mädchen reibt sich den Schlaf aus den Augen. Ihre Mutter blickt sich um und sagt immer wieder "danke".
Weitere Herausforderungen
Die tausenden Flüchtlinge, die täglich von Ungarn nach Österreich kommen, stellen die Behörden, die Hilfsorganisationen und die Zivilgesellschaft vor enorme Herausforderungen. Vor dem Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes in Ungarn werden am Wochenende abermals tausende Schutzsuchende erwartet. Allein am Donnerstag sind laut der burgenländischen Polizei 7500 Menschen über den Grenzübergang Nickelsdorf angekommen. Zwar wollen die meisten nach Deutschland weiter. Ein Teil wird allerdings in Österreich bleiben. Etwa 300 Asylanträge werden derzeit täglich gestellt. Etwa 40.000 Menschen werden heuer Asyl erhalten und dürfen hier bleiben.
Nach der Euphorie und der vorbildlichen Hilfsbereitschaft kommt nach dem Sommer die schwierige Aufgabe auf das Land zu, diesen Menschen hier langfristig Perspektiven zu bieten. Das Außen- und Integrationsministerium unter Sebastian Kurz (ÖVP) rechnet heuer mit einer Milliarde Euro für die Flüchtlingsbetreuung, inklusive der Belastung für das Sozialsystem. Viele der Schutzsuchenden haben höchstens einen Pflichtschulabschluss oder Ausbildungen, die hier nicht anerkannt werden. Laut AMS-Daten landen deswegen einige anerkannte Flüchtlinge, zumindest kurzfristig, in der Mindestsicherung. Panikmache ist dennoch fehl am Platz, denn langfristig werden das Pensions- und Sozialsystem angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung vom Zuzug profitieren, sagen Migrationsforscher. Derzeit zahlen Migranten mehr in das Sozialsystem ein, als sie herausnehmen.
Das kleine Mädchen aus dem Iran schlürft auf dem Schoß ihrer Mutter eine Suppe. Ein Sanitäter legt beiden eine Decke um. Die Luft ist kalt und nass. Am nächsten Tag will die Familie in einen Zug nach Deutschland steigen.