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Im Korruptionssumpf

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Politik

In Brasilien packen führende Manager eines Baukonzerns über Misswirtschaft im Lande aus.


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Rio de Janeiro. Sie hat ein kleines politisches Erdbeben ausgelöst: die Kronzeugenaussage von Cláudio Melo Filho, einem ehemaligen Direktionsmitglied des Baukonzerns Odebrecht. In ersten Auszügen, die nun an die Medien durchgesickert sind, beschuldigt er Brasiliens Präsident Michel Temer sowie zwei Dutzend weitere Spitzenpolitiker der Korruption. Viele gehören Temers Regierungsmannschaft an, unter ihnen Stabschef Eliseu Padilha und die Führer von Senat und Abgeordnetenhaus, Renan Calheiros und Rodrigo Maia. Die meisten der Beschuldigten sind außerdem einflussreiche Mitglieder von Temers Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB).

In seiner Aussage, die Melo im Zuge der größten Korruptionsermittlungen Brasiliens mit dem Codenamen "Lava Jato" (Autowaschanlage) gemacht hat, beschreibt er ein ausgeklügeltes System von Schmiergeldzahlungen. Die meisten illegalen Gelder seien zur geheimen Unterstützung der Wahlkämpfe bestimmter Politiker in "Zweite Kassen" geflossen. Die Politiker hätten im Gegenzug die Interessen von Odebrecht durchgesetzt. Odebrecht ist der größte Baukonzern Brasiliens und einer der größten Empfänger öffentlicher Aufträge in dem südamerikanischen Land. Der Konzern ist außerdem an Bau- und Immobilienprojekten rund um die Welt beteiligt.

Präsident Michel Temer sowie alle anderen Beschuldigten wehren sich gegen Melos Vorwürfe. Sie behaupten, alle Wahlkampfspenden ordentlich deklariert zu haben. Tatsächlich fehlt es bisher an handfesten Beweisen wie Tonbandaufnahmen. Allerdings ist Melos Geständnis nur eines der ersten von insgesamt 77 Geständnissen hoher Odebrecht-Manager, deren Aussagen in diesen Wochen öffentlich gemacht werden dürften. Die Manager sind allesamt der Korruption angeklagt; von ihren Kronzeugenaussagen versprechen sie sich entscheidende Strafnachlässe.

Politische Schockwellen

Mit größter Spannung wird nun die Aussage des ehemaligen Konzernchefs Marcelo Odebrechts erwartet. Als die "Denunziation vom Ende der Welt" bezeichnen sie Brasiliens Medien bereits. Nach ihr, so die dramatische Vorhersage, werde in Brasília kein Stein auf dem anderen bleiben.

Bereits jetzt fragt man sich, wie lange Temers Regierung noch durchhalten wird. Sie versucht derzeit mit Hilfe eines konservativen Kongresses, ein neoliberales Sparprogramm durchzusetzen. Zum Beispiel sollen die Ausgaben für Bildung und Gesundheit für die kommenden 20 Jahre eingefroren werden. UNO-Repräsentanten bezeichnen das Vorhaben als "Menschenrechtsverletzung" und "sozialen Rückschritt", der die Zukunft einer ganzen Generation gefährde.

In Brasilien selbst kommt der Widerstand gegen das Vorhaben vor allem von sozialen Bewegungen, schlägt sich aber nicht in Massenprotesten nieder. Die konservative Elite Brasiliens befürwortet die drastischen Einschnitte, und die Massenmedien - allen voran der mächtige Globo-Konzern - haben Temer bisher mit Wohlwollen begleitet. Ob sich dies mit den Aussagen gegen ihn ändern wird, bleibt abzuwarten.

Interessant an Melos Aussage ist, dass erstmals nicht die linke Arbeiterpartei (PT) von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff im Visier der Ermittler steht, sondern die rechtszentristische PMDB. Die größte Partei Brasiliens ist seit 2002 an der Macht beteiligt, heuer unterstützte sie die umstrittene Absetzung Rousseffs, an deren Ende Vizepräsident Temer das neue Staatsoberhaupt wurde. Anders als ihn hat man Rousseff jedoch nie der Korruption bezichtigt. Auch in Melos Geständnis taucht sie nicht als Geldempfängerin auf.

Parallel zu Melos Aussage sind zwei weitere Kronzeugenaussagen von Odebrecht-Managern bereits durchgesickert: Der Odebrecht-Beauftragte für den Bundesstaat Rio de Janeiro beschuldigt Rios Gouverneur Luiz Fernando Pezão und Rios Ex-Bürgermeister Eduardo Paes - beide PMDB -, Schmiergelder empfangen zu haben. Der Odebrecht-Direktor für São Paulo wirft wiederum Außenminister José Serra und dem Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, die Annahme illegaler Parteispenden vor. Alle Beschuldigten dementieren. Alckmin und Serra gehören der rechten Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) an.

Willfährige Justiz

Wie die PMDB wurde auch sie bisher von dem Ermittlungsteam um Untersuchungsrichter Sérgio Moro geschont. Dies brachte ihm den Vorwurf ein, es einzig auf die linke Arbeiterpartei abgesehen zu haben. Die neuen Aussagen werden die Ermittler nun zwingen, den Fokus ihrer Untersuchungen zu verschieben. Die Brasilianer reagieren auf die neuen Enthüllungen mit einer Mischung aus Wut und Resignation. Dass ohnehin alle Politiker korrupt seien und Brasilien keine Zukunft mehr habe, hört man häufig. Nachdem Brasilien ein Jahrzehnt lang als das "Land der Zukunft" gefeiert wurde, hat sich die Euphorie in ihr krasses Gegenteil verkehrt. Die schwere politische Krise hat sich mit einer seit vier Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise zu einem schweren Vertrauensverlust des Landes in seine eigenen Kräfte ausgewachsen. Die Zunahme der allgemeinen Gewalt trägt zu diesem Gefühl bei. Im Grunde wäre dies der ideale Moment für eine junge alternative Partei oder eine politische Persönlichkeit, die Hoffnung macht. Es gehört zur brasilianischen Tragödie, dass es beide nicht zu geben scheint.