Das Abwägen zwischen Vertrauen und Sicherheit, zwischen Angst und Neugierde ist für Forscher und Journalisten in vielen Krisenregionen ein schwieriger Balanceakt. Statt Heldenmythos wäre ein reflektierter Umgang mit Emotionen und Gewaltsituationen gefragt.
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"Kommt mit, wir brauchen euch. Militär ist auf dem Weg ins Dorf", sagt der Mann in der schwarzen Lederjacke, Iyad Burnat, einer der Anführer der Protestbewegung im palästinensischen Ort Bil’in im Westjordanland. Die ausländischen Aktivisten springen von ihren Matratzen auf und ziehen sich hektisch an.
Mitgehen - oder nicht?
Manche kritzeln noch schnell die Telefonnummer eines Anwalts auf den Unterarm. Für den Fall, dass sie von israelischen Soldaten mitgenommen werden. Es ist Zeit für die sogenannte Nachtpatrouille, in der internationale Aktivisten gemeinsam mit Palästinensern das Dorf bewachen. So wollen sie die palästinensische Protestbewegung im Kampf gegen die israelische Armee unterstützen. Denn diese drang nachts oft schwer bewaffnet ins Dorf ein, riss Jugendliche und Erwachsene aus dem Schlaf, und zerrte sie zum Verhör in die Kaserne. Es waren militärische Druckmittel, um die hartnäckige Gemeinschaft von Bil’in zu brechen. Denn das Dorf wehrte sich jahrelang mit gewaltfreien Mitteln gegen die israelische Sperrmauer und die jüdischen Siedlungen, die einen Großteil ihrer Landwirtschaftsflächen besetzt hatten.
Als Forscher und Journalist war ich immer wieder dort. So auch in jener Nacht, als die Aktivisten von Iyad Burnat aus dem Bett gerissen wurden. "Kommst du auch mit?", fragte mich Burnat. Ich war mir nicht sicher und zögerte, weil ich wusste, was folgen könnte: Tränengas, Verhaftungen und Gerangel; Aktivisten, die sich zwischen Soldaten und Palästinenser werfen. Plötzlich stand ich unter Stress: Wo liegen meine Grenzen als Forscher? Wo beginne ich, Aktivist zu werden? Bringe ich durch diese Aktion meine gesamte Arbeit in Gefahr, weil mich die israelischen Behörden als "feindliches Element" abschieben könnten?
Auch war es ein Dilemma zwischen der Notwendigkeit, Vertrauen zu gewinnen, und meiner eigenen Sicherheit. Nicht mitzugehen, hätte die lokalen Bewohner vermutlich misstrauisch gemacht. Als Anthropologe und Journalist wollte ich meiner aktiven Teilnahme Grenzen setzen, musste für meine Forschungen aber gleichzeitig verstehen, was vor sich geht.
Also ging ich mit, als Beobachter - und hatte Glück. Denn die Nacht brachte eine der zentralen Einsichten meiner Forschungen ans Licht. Angst und Skepsis hätten mich beinahe davon abgehalten.
Das Abwägen zwischen Vertrauen und Sicherheit, zwischen Angst und Neugierde ist für Forscher und Journalisten in vielen Konfliktregionen ein schwieriger Balanceakt. Dabei geht es nicht nur um den drohenden Tod oder Verletzungen, sondern auch um andere Gefahren und Probleme, wie etwa den Verlust der Aufenthaltsgenehmigung im Forschungsgebiet oder die politischen Konsequenzen von aktiver Teilnahme an Aktionen einer Konfliktpartei. Denn wer als Journalist oder Forscher in Aktionen des Konflikts "eingebettet" ist, muss sich die Frage stellen: Wo endet meine Rolle als Forscher?
Gefährliche Einsätze
Dabei ist es nicht immer leicht, den Menschen, unter denen man forscht und recherchiert, zu erklären, dass auch Journalismus und Wissenschaft zu sozialem Wandel beitragen, auch wenn es nicht immer danach aussieht: statt Transparenten und Megaphon trägt man dabei eben bloß Stift und Notizblock.
Immer wieder sterben Konfliktforscher in gefährlichen Gebieten, oder bringen Andere durch ihr Mitwirken in Gefahr. Allein seit Beginn des Jahres 2013 sind laut Internationalem Presseinstitut 23 Journalisten bei ihrer Arbeit gestorben. Verschlechterte Arbeitsbedingungen und ein immer intensiverer Wettbewerb lassen junge Sozialwissenschafter und Journalisten gerne die eigenen Grenzen übertreten. Und das sehr oft ohne Versicherung und institutionelle Unterstützung, ganz auf eigene Faust, für den ersten großen Artikel oder die Diplomarbeit.
Während Konfliktforschung in vielen Fachrichtungen zur Normalität wird, bleibt die Vorbereitung darauf an vielen Universitäten von gefährlichem Halbwissen geprägt. Anstatt ehrlicher Reflexion über den richtigen Umgang mit Gefahren lernt man scheinbar makellose Methoden von offenbar makellosen Forschern, die ihre eigenen Erfahrungen gerne romantisieren. Wer hält schon eine Vorlesung, die mit dem Satz beginnt: "Ich würde euch gerne von meinen eigenen Fehlern erzählen. . ."
Berichte aus dem Bürgerkrieg in Syrien oder den Bergen in Afghanistan werden gerne gelesen, und wissenschaftliche Arbeiten über Protest und Konflikt erfahren einen Boom. Das Internet und die sozialen Medien haben uns alle näher ans Geschehen herangerückt und lassen die Konflikte zugänglicher erscheinen. Nur, wie kann man sich auf die Gefahren in Konfliktgebieten vorbereiten?
Um sich aus wissenschaftlicher Perspektive damit auseinanderzusetzen, haben Anthropologen vor kurzem eine Konferenz in Kopenhagen ausgerichtet, in der Konfliktforscher ihren persönlichen Umgang mit Gefahren und Emotionen ins Zentrum rückten. So hat dort etwa die Schwedin Anna Hedlund ihre Geschichte erzählt. Diese führte über einen tagelangen Marsch durch Wald und Gebirge in den Osten der Demokratischen Republik Kongo, in ein Camp gewalttätiger Rebellen.
Unter Hutu-Rebellen
Nachdem Angehörige der Hutu-Mehrheit im ostafrikanischen Ruanda in nur 100 Tagen mehr als eine halbe Million ihrer Landsleute getötet hatten, flüchteten viele in den benachbarten Kongo, wo seit den neunziger Jahren der tödlichste Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg tobt. Die Hutu-Rebellen hoffen, irgendwann wieder nach Ruanda zurückzukehren. In nächtlichen Raubzügen terrorisieren sie Dörfer, töten, foltern und begehen Massenvergewaltigungen. Mehrere Gehstunden vom nächsten Ort entfernt, leben sie in Camps in den Bergen, von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Das einzige Kommunikationsmittel: ein Satellitentelefon. Ein geeigneter Ort für die anthropologische Feldforschung einer jungen Doktorandin?
"Ja", sagt Anna Hedlund, die mit 27 Jahren zu Fuß in eines der Rebellencamps marschierte, um monatelang unter Mördern und Vergewaltigern zu leben. "Meine Eltern hätten nein gesagt. Sie haben es erst später erfahren", erzählt Hedlund, die heute im schwedischen Malmö lebt. Seit Monaten versucht sie Forschungsdaten und Emotionen in einer Doktorarbeit zu vermengen. Und das ist kein einfacher Prozess: "Ich arbeite das alles noch auf, bin oft emotional verwirrt darüber, was ich dort erlebt habe. Deshalb brauche ich immer wieder Abstand zu den Daten, muss meine Arbeit aber bereits in zwei Monaten abgeben."
Ursprünglich sei sie in den Kongo gereist, um mit ehemaligen Kindersoldaten und Ex-Rebellen in sicheren Gebieten zu arbeiten. Doch dann lernte sie in der Stadt Bukavu einen kongolesischen Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation kennen, der gut über die aktiven Rebellengruppen in den Bergen Bescheid wusste. Nach Gesprächen mit einigen Ex-Kämpfern rückte plötzlich ein neues Forschungsfeld in greifbare Nähe: den Alltag der Hutu-Rebellen im Kongo hautnah miterleben.
"Dieser Prozess dauerte Monate. Als ich realisierte, dass es möglich ist, dorthin zu gehen, wurde ich nervös", erzählt Hedlund. Erst wollte sie die Kämpfer "irgendwo in der Mitte" zum Interview treffen. Gemeinsam mit dem Bekannten aus Bukavo marschierte sie los und traf nach mehreren Tagen Fußmarsch auf die ersten Rebellen. "Als ich sie dann vor mir sah, änderte sich alles. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihnen vertrauen kann. Sie waren nett und höflich. Also ging ich mit ins Camp."
Für Anna Hedlund war nicht nur der Umgang mit der eigenen Sicherheit Thema, sondern auch die emotionale Aufarbeitung des erfahrenen Grauens, das sich tief in ihre Psyche eingegraben hat. Ihre Forschungsdaten nach der Heimkehr durchzukauen, sei nicht einfach gewesen. Deshalb vermeidet sie derzeit jedes Gespräch über die Forschung mit Freunden und Bekannten. Bald nach ihrer Heimkehr ist ein traumatischer Faktor hinzugekommen, als sie von ihrem Kontaktmann in Bukavo erfuhr, dass ein Teil ihrer Informanten aus dem Camp bei einem Angriff der Regierungstruppen getötet wurde. "Ich weiß, es gab einen Angriff. Und ich weiß, dass die meisten der 30 Männer heute tot sind."
So wird jede Zeile ihrer Interviews, jeder im Notizbuch beschriebene Eindruck auch zu einem Nachruf auf ihre Informanten, die sie trotz deren Verbrechen nach Monaten im Lager auch als Menschen zu betrachten gelernt hat.
"Was mich zu Beginn sehr beschäftigt hat, war die Normalität in dem Camp. Vorher hatte ich ein Bild von ständiger Gewalt im Kopf, aber der Alltag dort war völlig normal", erzählt Hedlund - und gesteht, dass sie Schwierigkeiten hatte, die Rebellen als Täter zu sehen. "Da wird man schnell parteiisch und sieht sie plötzlich als Opfer."
Aber schon bald wurde ihr klar, dass die Männer im Lager immer wieder in der Nacht losziehen, um Dörfer auszurauben, Menschen zu töten und Frauen zu vergewaltigen. "Am Tag war alles mehr oder weniger in Ordnung. Aber in der Nacht änderte sich das. Mein Vertrauen darin, dass sie mir nichts antun, wurde dann kleiner . . ."
Fürsorgliche Rebellen
Völlig vertraut habe sie den Männern letztlich nie. Doch eine menschliche Erfahrung half ihr auf halber Strecke, die Angst zu überwinden. Nach einem Monat plötzlich schwer an Malaria erkrankt, wurde sie fürsorglich von den Rebellen ins nächste Krankenhaus getragen. Das habe ihr Vertrauen zurückgegeben. Nach einer Pause in Schweden ist sie danach noch ein zweites Mal für mehrere Monate ins Lager zurückgekehrt.
Wenn man Anna Hedlund heute zu ihrer Forschung befragt, erfährt man, dass sie den Aufarbeitungsprozess noch nicht ganz beendet hat. "Es ist emotional weiterhin schwierig", sagt sie. "Es hilft mir aber, mich in den Daten zu verlieren. Weil, wenn wir uns fragen: Krieg und Gewalt, warum tun diese Menschen das? Dann sind das keine leeren Fragen mehr für mich. Ich sehe plötzlich Antworten. Und meine Forschungsergebnisse sind auch eine mögliche Antwort."
Nähe und Distanz
Sich auf eine Forschung wie jene von Anna Hedlund vorzubereiten, ist nicht einfach. Denn wie ihr Beispiel zeigt, endet man auch nicht immer dort, wo man ursprünglich hin wollte. Unter Forschern sind es besonders die Kultur- und Sozialanthropologen, die oft über sehr lange Zeit unter den Menschen leben, die sie beforschen. So wie viele Auslandskorrespondenten arbeiten auch sie unter der ständigen Spannung zwischen Nähe und Distanz zu den Menschen, über die sie schreiben. Die Nähe ist dabei ebenso nötig wie die sichere Distanz: Was Anna Hedlund durch ihr Leben im Camp herausgefunden hat, hört man weder in Expertengesprächen, noch in hunderten Interviews.
Das Teilwerden und Eintauchen in die beforschte "Materie" ist hier die zentrale Methode der Erkenntnisgewinnung. In Kriegsgebieten folgt dieses Eintauchen jedoch anderen Gesetzen und bringt Forscher schnell auf gefährliches Terrain. Doch statt einer ehrlichen Aufarbeitung der Realität hören wir immer öfter heroische Selbstdarstellungen von "Krisenkorrespondenten" und "Konfliktforschern". Dass die wissenschaftliche Forschung in Konfliktregionen heute ebenso verbreitet ist wie der Wunsch junger Journalisten, Kriegsreporter zu werden, liegt am Mythos, nicht an der Realität.
Die österreichische Anthropologin Nerina Weiss hat die Konferenz in Kopenhagen ins Leben gerufen, weil sie selbst Probleme hatte, mit dem emotionalen Stress ihrer Forschung über kurdische Folteropfer umzugehen. Dabei wurde ihr bewusst, dass Anthropologen damit meist alleine dastehen und kaum darauf vorbereitet werden. "Es muss möglich sein, durch einen reflektierten Zugang zum emotional schwierigen Material diesen Umgang zu lernen", sagt sie. "Aber zuerst müssen wir uns vom Tarzan-Syndrom lösen."
Damit meint sie die Tendenz unter Forschern, mit ihren Erfahrungen in Konfliktgebieten anzugeben. Stattdessen solle man den eigenen emotionalen Stress und die Widersprüche dieser komplexen Arbeit aufarbeiten und für andere zugänglich machen, damit sich der Nachwuchs besser auf ähnliche Einsätze vorbereiten kann.
Erella Grassiani, eine israelisch-holländische Anthropologin, warnte ebenfalls vor falschen Wahrheiten. An der Universität in Amsterdam hält sie Kurse zur Anthropologie der Gewalt. "Dort sehe ich mir die jungen Mädchen und Burschen an und frage sie: Warum interessiert euch dieses Forschungsfeld? Viele haben keine Ahnung und kommen einfach, weil es irgendwie trendy geworden ist", sagt Grassiani, die lange Zeit unter israelischen Soldaten geforscht hat.
Überleben mit Lachen
Eine andere Anthropologin erzählte bei der Konferenz in Kopenhagen, dass sie in ihrer Forschung in Nepal Notizen in codierter Geheimschrift verfasst hat, um sich vor Übergriffen bewaffneter Truppen zu schützen. Damals hat sie auch gelernt, Stress durch Atemtechniken abzubauen. Die Art, sich zu kleiden, war für sie ebenfalls wichtig in der Gewaltvermeidung. Denn ein falscher Kleidungsstil hätte sie leicht als Maoistin identifiziert und den Regierungstruppen ausgeliefert.
Der Folter-Experte Darius Rejali hat nach wochenlangem Studium von Folterberichten erkannt, dass ihm bewusstes Lachen hilft, nicht depressiv zu werden. Die Anthropologin Ivana Majek von der schwedischen Universität Uppsala sprach über ihre Forschung im Bosnien-Krieg. Dort hätten ihr Freunde oft Sicherheit gegeben. Doch gleichzeitig warnt sie davor, Freunde und Interviewpartner zu "vermischen". Sonst gerät man als Forscher schnell ins Kreuzfeuer.
Allen gemeinsam schien die Erkenntnis zu sein, dass auch Intuition eine wichtige Rolle spielt. Ebenso Gefühle, die uns letztlich näher an die Essenz des Forschungsfeldes heranführen, meinte Nerina Weiss.
Nur, wie weit kann man dabei gehen? Muss man Gewalt hautnah miterleben, um darüber schreiben zu können? Muss man zuerst fast gestorben sein, um den Tod zu verstehen?
Andreas Hackl, geboren 1985, hat Kultur- und Sozialanthropologie und Politikwissenschaft in Wien studiert. Er ist Korrespondent der "Wiener Zeitung" für Israel und Palästina und freier Journalist im Nahen Osten.