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Im Krieg nach dem Terror

Von Petra Ramsauer

Politik

Hunderttausende Menschen versuchen derzeit, den Kampf um Mossul irgendwie zu überleben.


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Wer kann, der flieht. Noch immer sind aber 650.000 Menschen im Westen Mossuls eingeschlossen.
© ramsauer

Mossul. Eine Packung Windeln und die Handtasche seiner Frau trägt der junge Mann. Auf seinem einzigen verblieben Kleidungsstück, einem blauen Sweatshirt, steht in Großbuchstaben "I love Paris". "Das ist von unserem Leben geblieben. Alles, was wir besessen haben, liegt in Trümmern." Eilig zieht er mit seiner Familie weiter, zu hektisch, um noch seinen Namen zu nennen. Aus der zerbombten Häuserzeile taucht sofort die nächste Gruppe auf, reiht sich in den Strom der Verzweifelten ein, die aus den umkämpften Vierteln Mossuls Richtung Sicherheit strömen. 50.000 sind es derzeit pro Tag.

"Wir sind am Rande des Möglichen angelangt. Für so viele waren wir nicht vorbereitet", warnt Lise Grande, die für die Vereinten Nationen die humanitäre Hilfe koordiniert: "Die Kapazitäten sind am Zusammenbrechen." Besonders in Sorge sei sie aber auch um jene, die es nicht schaffen zu fliehen. "Noch sind 650.000 Menschen im heftig umkämpften Gebieten Mossuls eingeschlossen." Seit Mitte November, sagt sie, seien weder Lebensmittel noch sonstige Güter in das Gebiet gelangt. Wer dort ist, kämpft unter Feuer, ohne jegliche Unterstützung und Reserven, ums Überleben.

Deshalb versuchen alle zu fliehen, die es irgendwie schaffen. Quer durch die lebensgefährliche Front. Bei eisigen Windböen, die dichte Staubwolken vor sich hertreiben, wird die Flucht zu einer qualvollen Härteprobe. Kleine Kinder trotten stumm und monoton neben den Erwachsenen her. Die Frauen wagen es noch nicht, ihre langen schwarzen Mäntel abzulegen. Als es zu regnen beginnt, schleifen sie mit dem Saum im Schlamm. Verheddern sich im Morast.

Seit einem Monat läuft die Offensive irakischer Sicherheitskräfte gegen die Milizen des Islamischen Staates am westlichen Tigris-Ufer der irakischen Millionenstadt. Hier, nahe der Altstadt, hat sich der härteste Kern der Terrorkämpfer verbarrikadiert. Da befindet sich auch die an-Nur Moschee mit ihrem legendären schiefen Minarett. Sie ist das Epizentrum im Versuch, den "Islamischen Staat" zu zerstören. Ihr Symbolwert ist enorm: In dieser Moschee hat Abu Bakr al-Baghdadi im Juni 2014 den "Islamischen Staat" ausgerufen, sich zum Kalifen ernannt. Nach einem Blitzkrieg konnte damals die Terrormiliz, flankiert von Kämpfern aus 120 Staaten, ein Drittel des Iraks und die Hälfte Syriens erobern und acht Millionen Menschen mit brachialer Gewalt beherrschen.

Eine absurde Welt

Von einem Albtraum taumeln die Menschen von Mossul nun in den nächsten. "Geben Sie mir Wasser. Bitte Wasser", sagt Haidar, ein 52-Jähriger, der seine Habseligkeiten in einen alten Reissack gepackt und auf den Rücken geschnallt hat. "Wir sind um Mitternacht los." Nun ist es fast Mittag. Seine Lippen sind aufgesprungen. Er rührt das Wasser aber nicht an, sondern gibt es den Kindern, die mit ihm unterwegs sind. "Die IS-Terroristen schießen wie wild um sich. Drei Jahre haben wir diese Irrsinnigen aushalten müssen. Wir haben gehofft, dass irgendwann alles gut wird. Sie besiegt werden. Doch diesen Krieg haben schlussendlich nur wir verloren. Die Terroristen des IS sprengen sich in die Luft oder tauchen unter. Die wird es weiter geben. Aber unsere Heimat ist eine Ruine geworden."

Haidars fünfjährige Enkelin sinkt während dieser kleinen Pause müde auf einen Abschnitt mit brüchigem Asphalt. Der Großteil der Fahrbahn ist ein einziger unwegsamer Bombenkrater. Mit einem kurzen Nicken greift sie zaghaft nach der Tafel Schokolade, die wir ihr reichen. Ratlos mustert sie in ihrem viel zu leichten Sommerkleid die Reporterin der "Wiener Zeitung", die ihr in Stahlhelm und kugelsicherer Weste gegenübersteht. "100 Prozent bio und fair gehandelt. Verpackung kompostierbar", steht auf der Verpackung der Süßigkeiten, die sie jetzt umklammert: Ein Moment, der die Absurdität der ungleichen Welten des 21. Jahrhunderts in einem präzisen Bild widerspiegelt.

Die Mutter der Kleinen trägt einen Säugling, eingewickelt in eine Decke mit dem Muster von kleinen Elefanten. "Das Kind fiebert", sagt sie panisch. "Tun sie etwas. Sie sind doch sicher Ärztin." Gleich darauf zuckt sie zusammen, hüllt das Kind wieder ein. Das Zischen einer Rakete versetzte sie in Panik. Wenige Minuten später vibriert der Boden. Der Detonation folgen weitere, dumpfe Explosionen von Granaten. Eines der Kinder läuft barfuß weiter. Die billigen Sandalen bleiben in einer sumpfigen Pfütze stecken.

Für einen Moment geht der Überblick in einem Knäuel aus Sandsturm, Kampfgetöse und Motorengeräuschen verloren. Ein pechschwarzes gepanzertes Fahrzeug der Eliteeinheit der irakischen Armee rast vorbei. Die Scheinwerfer leuchten grell durch die trübe Luft. Sirenen plärren in den Gefechtslärm. Ein Soldat wird in das nahe Feldlazarett gebracht. Wie sich später herausstellt, war der Rettungsversuch sinnlos. Ihn hat der gezielte Schuss in den Nacken sofort getötet. Da half keine Kampfmontur. "Diese Teufel", schreit jener Offizier, der ihn zu den Ärzten bringt. Dann bricht er weinend zusammen.

Zäher Häuserkampf

200 Meter weiter, an einer Kreuzung, ist die "Front". Ab diesem Punkt herrscht die brutalste Form des Krieges, die es gibt: Häuserkampf. Block für Block versucht hier die "Goldene Division" vorzudringen. Zwei Jahre wurden sie von der US-Armee im Kampf Mann gegen Mann trainiert. Doch auch die Kapazitäten der Elite-Einheit sind bis zum Äußersten strapaziert. Von Oktober bis Jänner war der Trupp im Einsatz bei der Befreiung des Ostens der Zwei-Millionen-Stadt; auf der anderen Seite des Tigris-Ufers. Doch die Milizen schonten ihre Kräfte und besten Kämpfer für einen Stellungskrieg im Westen, dem dicht besiedelten Gebiet im Herzen der Stadt.

Nach den ersten zügigen Fortschritten gelingt es nun nur noch, einen Häuserzug pro Tag zu erobern. Es riecht penetrant nach Sprengstoff, versengtem Metall, brennendem Plastik. Und Verwesung. Getötete IS-Kämpfer werden nicht beerdigt, sondern am Straßenrand deponiert. Ihnen werden aus Rache Beerdigungen verweigert. Und unzählige Zivilisten dürften unter den Trümmern liegen, die auch nicht beerdigt werden können, weil niemand und nichts da ist, um sie zu bergen. An die Tausend dürften allein im März umgekommen sein. "Verlassen Sie nicht ihre Häuser. Sie sind bald in Sicherheit. Wir kommen, um Euch zu retten", steht auf Flugblättern, die von der irakischen Armee abgeworfen werden.

"Das ist blanker Zynismus", sagt Ismail Dabus: "Dort drüben", fährt er fort und zeigt dabei auf eine zerbombte Häuserruine: "Da liegen 48 Menschen noch unter den Trümmern. Wir haben keine Chance, sie zu bergen." Der 50-Jährige hatte Glück. Sein Haus im Viertel al-Mamoun steht noch, die Front ist bereits einige hundert Meter entfernt. Eigentlich hatte er an diesem Tag vor, zaghaft die Fäden seines Lebens wieder aufzuklauben und in den ersten offenen Geschäften einzukaufen.

Es kam anders. Mit sechs anderen Männern hebt er nun ein Loch in der hellbraunen Erde aus. Sein Cousin, Saef Nesim, 50, starb samt dessen Neffe Mohammed Jarr, 19. Erst zwei Stunden sind sie tot, in hellgraue Filzdecken gewickelt liegen ihre Körper am Rand der Grabreihen. Die ärmellose Daunenweste, die der Jüngere eben noch getragen hat und seine Schuhe liegen verwaist vor seinen bedeckten Füßen.

Tödliche Hinterlassenschaft

Ismail hat den Personalausweis des Toten in der Hand. Schnell geht sie, die Zeremonie. Ein kurzes Gebet, eine angedeutete Verneigung. Die beiden starben, als der Onkel mit dem jungen Verwandten sein Geschäft aufsperren wollte. Doch der Rollladen, den sie zum ersten Mal seit Kriegsbeginn öffneten, war eine Sprengfalle - eine Hinterlassenschaft des "Islamischen Staates" bei einem Rückzugsgefecht. Sprengfallen lauern auf jene, die glauben, es geschafft zu haben, das Terrorregime und dann den Krieg zu überleben: eine grausame Analogie für das, was vom Kampf um Mosul bleiben wird. "95 Prozent von uns allen würden sofort den Irak verlassen, wenn wir könnten", sagt Ahmad Jarr, ein weiterer Verwandter der Toten, schluchzend: "In ein paar Stunden könnte man mich hier schon begraben. Wir im Irak haben einfach genug. Seit über zehn Jahren gibt es Krieg und Terror. Mossul ist im Westen zu einem Trümmerhaufen zerbombt worden. Und was kommt als Nächstes? Nach der Al-Kaida im Irak, dem Islamischen Staat?"