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"Im Krieg werden keine Süßigkeiten verteilt"

Von Veronika Eschbacher

Politik

Der afghanische Parlamentspräsident über den Versuch der Gesellschaft, Traumata zu überwinden, und die Wichtigkeit der Demokratie.


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"Wiener Zeitung": Sie sind seit vier Jahren Sprecher des afghanischen Parlaments. In diesem sind alle Ethnien des Landes vertreten. Wie läuft die innerafghanische Aussöhnung, die notwendig wurde, da während der Kriege in verschiedenen Konstellationen praktisch jeder gegen jeden gekämpft hat?

Abdul Raif Ibrahimi: Afghanistan ist aus historischen Gründen ein Land mit verschiedenen Ethnien, Sprachen und Traditionen. Die Menschen aber haben einen Mittelpunkt, um den herum sich alle einfinden: unser Glaube. Wir haben eine neue Verfassung, die alle ethnischen Gruppen inkludiert und ihnen Rechte garantiert. Auch die anstehenden Wahlen vereinen uns, da wir alle ein Interesse am Aufbau und der Stabilisierung unseres Landes haben, genau so wie der Kampf gegen den Terrorismus. Durch diese gemeinsamen Ziele glauben die Menschen mittlerweile aneinander und kommen viel besser miteinander zurecht.

Ihr Land hat dreißig Jahre Krieg hinter sich, viele Menschen sind traumatisiert. Wie wirkt sich das auf die Zukunft aus?

Im Zuge dieses elenden Kriegs in Afghanistan wurden zwei Millionen Menschen abgeschlachtet, über sieben Millionen mussten in die ganze Welt fliehen, wir haben mehrere Millionen Kriegsversehrte. Warum? Weil wir für den Frieden kämpfen, für ein freies Afghanistan, das selbstbewusst seine eigene Gesellschaft führt. Aus der afghanischen Geschichte geht klar hervor, dass das Land immer wieder von Fremden angegriffen wurde - und wir haben uns gewehrt. In solchen Momenten kamen alle afghanischen Ethnien wie eine Faust zusammen. Von außen wird nach wie vor versucht, einen Keil in die afghanische Gesellschaft zu treiben. Dass dies immer wieder funktioniert, liegt auch an der Armut und daran, dass immer wieder unzivilisierte Menschen an die Macht wollen.Jetzt müssen wir dafür kämpfen, dass sich die Gesellschaft wieder wohlfühlt. Dafür brauchen wir Rechtsstaatlichkeit, die Durchführung demokratischer Wahlen oder soziale Gerechtigkeit.

Reicht das aus, um die Kriegswunden zu heilen?

Im Krieg werden keine Süßigkeiten verteilt. Krieg ist Elend, es bringt einer Gesellschaft Traumata und Krankheiten. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch werden alle gebrochen. Wenn ein Land sich so lange im Kriegszustand befindet, hat das auf jeden Einzelnen Auswirkungen. All das kann man nicht mit Tabletten bekämpfen, sondern nur, in dem man den Wohlstand insgesamt steigert, dafür sorgt, dass wirtschaftlich, politisch Fortschritte gemacht werden, sich die Menschen sicher fühlen und Bildung erfahren. Auch die jetzigen Wahlen sind ein sehr wichtiger Beitrag hierfür, Demokratie an sich, denn sie gibt den Menschen das Gefühl, dass sie frei sind und die Richtung, die Afghanistan einschlägt, mitbestimmen können. Das trägt zum seelischen Wohlbefinden der Afghanen bei.



Zur Sicherheit und dem Wohlbefinden der Afghanen würde wohl auch die Unterzeichnung des Sicherheitsabkommens mit den USA beitragen, das die weitere Truppenstationierung auch nach 2014 ermöglicht. Warum unterzeichnet Präsident Karzai dieses nach wie vor nicht?

Das ist keine persönliche Angelegenheit zwischen Karzai und den USA. Es ist auch eine große Angelegenheit für die afghanische Bevölkerung. Bereits vor dem bilateralen Sicherheitsabkommen, das nun diskutiert wird, gab es ein Strategievertrag, in dem Amerika erklärte, Freund und Unterstützer Afghanistans zu sein. Im Paragraf 9 dieses Vertrags steht ganz eindeutig, dass im Falle eines Angriffs auf Afghanistan durch ein fremdes Land die USA Afghanistan schützen würde. Aber die Amerikaner haben ihr Wort nicht gehalten, daher hat die afghanische Bevölkerung ihr Vertrauen in sie verloren. Das Abkommen ist natürlich wichtig für unser Land, und wir würden es natürlich unterschreiben. Aber die Amerikaner müssen uns auch davon überzeugen können, dass sie für Frieden sind, und Frieden für Afghanistan bedeutet, dass keine Angriffe mehr aus anderen Ländern stattfinden. Afghanistan hat heute keinen innerafghanischen Krieg, die Konflikte kommen von außen. Dieses Vertrauen wieder zu verdienen, dafür muss Amerika selbst kämpfen und die Menschen überzeugen.

Abdul Raif Ibrahimi, geboren 1952 in der nördlichen Provinz Kunduz, ist seit vier Jahren Präsident des afghanischen Parlaments. Ibrahimi kämpfte einst zuerst gegen die sowjetische Besatzung, später gegen die Taliban.