)
Bhutan hat den Vorhang für mehr Besucher geöffnet. Das Himalaja-Königreich durchlebt zur Zeit eine aufregende Transformation seiner mittelalterlichen Kultur.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Ein kräftiges Gewitter ist über dem Sinchu-Pass aufgezogen. Druk Yul, das Land des Donnerdrachens, macht seinem Namen alle Ehre. Hier, auf 3400 Metern Seehöhe, ist an klaren Tagen die schneebedeckte Pracht des Himalajas zu bestaunen. Doch nun flattern die bunten Gebetsfahnen knatternd im Sturm. Blitze zucken aus dunklen Wolken, und der Donner grollt durch einen mystisch wirkenden, von Flechten durchsetzten Nadelwald.
Bhutan ist das einzige Königreich weltweit, in dem der tantrische Buddhismus Staatsreligion ist und die Einwohner ein Recht auf Glück haben. Noch bestimmen rituelle Handlungen den Alltag der Menschen. Sie drehen sich im Uhrzeigersinn, symbolisch und tatsächlich. Wie das buddhistische "Rad des Lebens", das auf zahlreichen Wandbildern zu sehen ist und den Kreislauf der Wiedergeburt illustriert. "Rechts herum" drehen sich die Gebetsmühlen überall im Land, und ebenso lautet auch das Motto für die steigende Zahl von Autofahrern auf Bhutans engen Straßen.
Selbstverständlich nimmt jeder Umwege auf sich, um eine der vielen Chörten am Wegesrand zu umrunden. "Das bringt Glück für die gefahrvolle Reise und befördert das Karma der Passagiere", sagt Fahrer Ugyen. Denn im Sockel der an eine bauchige Glocke erinnernden Sakralbauten befinden sich religiöse Schriften. Wer also einen solchen Stupa umrundet - zu Fuß oder im Fahrzeug -, betet sämtliche enthaltenen Texte. So bessern die Menschen unterwegs ihr Karma auf, die spirituelle Summe aller heilsamen und unheilsamen Handlungen.
Fleisch aus Indien
"Leute, die töten, werden wahrscheinlich als Tiere wiedergeboren - etwa als Hund. Selbst wenn es ein glücklicher Hund ist, wird er erneut reinkarniert. Nur Menschen können höhere Bewusstseinsstufen erlangen und sich diesem Kreislauf entziehen, durch Meditation und achtsames Leben", erklärt die Nonne Ani. Solche Erkenntnisse bringen Mönche dazu, streunende Hunde auf Karren zu laden und sie um Chörten herumzukutschieren. So widerfährt den bemitleidenswerten Kreaturen eine Verbesserung ihres Karmas, die Tiere kommen einer günstigeren Wiedergeburt näher.
Mitleid ist auch das Motiv dafür, dass es in Bhutan keinen offiziellen Schlachthof gibt. Zwar dürfen Hühnchen-Currys oder Hammelgulasch bei keinem Festmahl fehlen, selbst religiöse Meister greifen da zu. Doch "Fleisch wird aus Indien importiert", erklärt Reiseführer Jigme, der wie seine Kollegen ausländische Besucher kaum unbegleitet lässt. "Wo ist ihre Gruppe?!", ruft der engagierte Guide einer Europäerin zu, die alleine unterwegs ist - und dies darf, weil sie hier arbeitet. Es gilt, das kulturelle Erbe zu wahren, und so bleibt Fremden der Zutritt zu vielen Kultstätten verwehrt. Drinnen darf generell nicht fotografiert werden.
Weder die prachtvoll dekorierten Altäre mit den golden glänzenden Monumentalstatuen des tantrischen Meisters Guru Rinpoche - Bhutans Nationalheiligen - dürfen im Bild festgehalten werden, noch getrocknete Blütenblätter, die gegen Bluthochdruck helfen und im Museum für Tibetische Medizin der Hauptstadt Thimphu ausgestellt sind.
Trotz derartiger Beschränkungen versetzt das ehedem völlig verschlossene Bhutan seine Gäste regelmäßig in Erstaunen. Das Publikum wird informiert über auf Sonnenstrahlen reisende Klosterbegründer, jeden Zweifel erhabene Monarchen oder als Ungeheuer reinkarnierte Lehrmeister, die in solch beängstigender Erscheinungsform böse Dämonen aus Druk Yul vertrieben.
Moderner Dämon
Tatsächlich bewahrte das kleine Königreich stets seine Unabhängigkeit - vor tibetischen Truppen oder den Kolonialmächten im britisch kontrollierten Indien. Seit 1971 ist Bhutan Mitglied der Vereinten Nationen und muss keine Annektierung mehr fürchten. Der moderne Dämon scheint anderswo zu lauern - er wurde aus freien Stücken ins Land gelassen: Auf aktuell 100.000 Ankünfte hat die Regierung die Besucherzahl gegenüber 2011 verdoppelt. Als letzter Staat der Erde führte Bhutan das Fernsehen 1999 ein. Während in den lokalen Medien bisweilen mit der Attacke eines Bären auf einen Bauern aufgemacht wird, verbreiten internationale Nachrichtensender Meldungen von den großen Brennpunkten der Erde. Mit dem globalen Angebot flimmern auch Eindrücke von der aktuellen Mode zwischen Europa und Fernost über die Bildschirme.
Die Folgen sind am besten in Thimphu spürbar. Viele junge Leute in der übersichtlichen Kapitale eifern neuen Vorbildern nach. Jeans und T-Shirt lösen bei Männern den traditionellen Gho ab. Das elegante Kleidungsstück erinnert an einen weit geschnittenen Bademantel mit schneeweißen Manschetten. Ein Gürtel hält den Gho um die Taille zusammen, im Innenfutter können die nun obligatorischen Mobiltelefone oder die beliebten Betelnüsse transportiert werden.
Tabak unter der Theke
Wenn es um das Glücklichsein geht, denkt die Regierung auch an die Gesundheit ihrer Bürger. Rauchen ist seit 2004 in der Öffentlichkeit verboten. Wer keine Zolldeklaration für seine Zigaretten vorweisen kann, muss mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren rechnen. Das Management des Hotels Jumolhari von Thimphu reagiert pragmatisch auf die veränderte Situation: Die exquisite heimische Orangenkonfitüre wird den Gästen nun in den nutzlos gewordenen Aschenbechern zum Frühstück serviert. Doch auch im Land des Donnerdrachens läuft vieles im Verborgenen. Unter der Ladentheke - verraten Händler - sind indische Tabakwaren erhältlich. Die allseits beliebten Betelnüsse, deren Genuss belebt und gesundheitsschädlich ist, bleiben trotzdem erlaubt. Die Vergabe des "Doma" an einen Besucher unterstreicht seit jeher die Gastfreundschaft und gilt als schützenswertes Kulturgut.
Bhutan heute ist die weltweit wohl einzigartige Mischung aus mittelalterlicher Ursprünglichkeit und neugieriger Offenheit für alles Moderne. Seit Einführung der Monarchie 1907, die das innerlich zerrüttete Reich einte, versucht das Land einen Drahtseilakt. Die Regierung vollzieht das Kunststück einer sich beschleunigenden Öffnung nach außen, einer Demokratisierung im Innern - samt Abdankung des Regenten und Aufbaus eines Mehrparteiensystems - sowie der Wahrung lebendiger Traditionen. Dass dies bislang gelingt, liegt auch an dem politisch-philosophischen Konzept des "Brutto National Glücks", das König Jigme Singye Wangchuk 1980 ersann.
Demnach soll sich die Entwicklung Bhutans nicht nur auf wirtschaftliches Wachstum stützen, sondern auch auf den Schutz der Natur, die Wahrung buddhistischer Werte, die Achtung der eigenen Kultur und eine verantwortungsvolle Regierungsführung. "Unter der Leitung seiner Monarchen erlebte das Land binnen hundert Jahren signifikante Entwicklungen, für die europäische Demokratien viele Jahrhunderte benötigten", konstatiert etwa Marian Gallenkamp für das Institut für Friedens- und Konfliktstudien in Neu Delhi.
"Brutto-National-Glück"
Diese erstaunliche Entwicklung ist etwa in den imposanten Wehrklöstern aus dem 17. Jahrhundert, den Dzongs zu erleben, welche sich wie eh und je Regierungsstellen und buddhistische Mönchsorden teilen. Einer Festung gleich thronen die Bauten inmitten idyllischer Täler. Bei feindlichen Angriffen boten sie Schutz für sämtliche Bürger der Umgebung.
Die Beamten auf der einen Seite der Anlagen arbeiten heute an Computern. Die für alle Belange des Lebens erforderlichen Genehmigungen - etwa für das Abholzen eines einzelnen Baumes - werden nach eingehender Prüfung per E-Mail an die Antragsteller verschickt.
Mönche in dunkelroten Kutten telefonieren auf der anderen Seite per Mobiltelefon mit Verwandten. So modern der Alltag in den geschichtsträchtigen Gemächern ist, wird doch das Protokoll gewahrt: Besucher müssen wie vor Jahrhunderten in traditionellem Gewand erscheinen - samt Zeremonialschal, dessen Farbe den gesellschaftlichen Rang verrät: "Weiß für einfache Bürger, blau für Volksvertreter, gelb für seine Majestät", erklärt Begleiter Jigme.
Bei einem so weitreichenden Spagat zwischen Gestern und Heute überraschen die Wandmalereien im 2005 erbauten Druk Wangyel-Tempel kaum. Die in bewährter Technik ausgestalteten Fresken zeigen Mönche mit Laptop, die "eisernen Vögel" der nationalen Fluglinie Drukair oder traditionell bekleidete Bürger mit Ausgaben der staatlichen Tageszeitung "Kuensel".
Ihre Majestät die 4. Königin des 4. Königs ließ das Heiligtum auf der Spitze des Sinchu-Passes errichten. Es soll an herausgehobener Stelle - den ganzen Himalaja im Blick - an die Verdienste der Herrscher Bhutans und ihr Wirken erinnern. Die Blitze und das Donnergrollen erscheinen da wie eine Mahnung der Berggötter, für den Erfolg der abgebildeten Errungenschaften zu sorgen.
Marc Tornow, geboren 1972, lebt als Journalist in Hamburg und arbeitet für verschiedene Printmedien.