Zum Hauptinhalt springen

Im langen Schatten des Betonsargs

Von Reinhard Kriechbaum

Politik

Das Gelände rings um das zerstörte Atomkraftwerk Tschernobyl ist auch heute, 16 Jahre nach der Katastrophe, noch immer stark strahlenbelastet. Trotzdem nutzen über tausend Gäste pro Jahr die Gelegenheit, sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Kopaci" - eine Ortstafel an der Straße verblüfft, ist doch weit und breit kein Ort zu entdecken. "Man muss schon sehr genau schauen", sagt die ortskundige Begleiterin. "Von den Gebäuden ist nichts mehr zu sehen, aber an den Gebüschen lassen sich noch die ehemaligen Grundstücksgrenzen ablesen." Die Bauernhäuser wurden in den Jahren nach der Tschernobyl-Katastrophe abgetragen. Das Dorf Kopaci lag etwa fünf Kilometer südlich vom Unglücksort. In der Stadt Pripjat, die bis zur Evakuierung ab dem 27. April 1986 immerhin 50.000 Einwohner zählte, stehen die Häuser noch. Ein flaues Gefühl stellt sich ein, wenn man sieht, wie hier die Natur seit sechzehn Jahren ihren Raum zurückerobert. Gras und Unkraut wuchern aus jeder Ritze der realsozialistischen Plattenbetonbauten. Sträucher mit prallen roten Beeren und die schon herbstlich bunten Kastanienbäume entlang der Straßen bilden einen eigenartigen Kontrast zum Grau des Betons und des Himmels. An einer Hausecke rosten zwei Telefonhäuschen vor sich hin, Mosaikfliesen bröckeln vom Brunnenbecken am Hauptplatz. Auch im ehemaligen Kulturpalast ist der Zierrat längst von den Wänden gefallen. "Hotel Polissija" steht in großen Lettern auf einer riesigen Bauruine.

Pripjat, eine rein funktionelle Industriestadt aus der Sowjet-Ära, muss wohl schon vor der Katastrophe einen eher herben Charme verströmt haben. "Jetzt kann man gelegentlich Füchse beobachten, die durch die Straßen streunen", sagt die Führerin. Fast alle Menschen, die hier lebten, waren in irgendeiner Weise im Atomkraftwerk beschäftigt, verantwortlich für Betrieb, Technik und Wartung. Die meisten waren am Bau tätig, denn die ganze Anlage war ja noch nicht einmal zur Hälfte fertiggestellt, als die verheerende Explosion stattfand. Der sechste Block war gerade in Bau, die Kräne stehen noch. Insgesamt hätten es 12 Atommeiler werden sollen. Im Dezember des Jahres 2000 wurde der letzte noch in Betrieb befindliche Kraftwerksblock vom Netz genommen. Seither ist eine kleine Armee von Wissenschaftlern und Arbeitern mit Abbau- und Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Die Brennstäbe sind ja noch vor Ort. Neben dem Kraftwerk werden Hallen mit dicken Betonwänden errichtet, dort soll radioaktives Material endgelagert werden.

In der inneren Sperrzone

Fährt man hier entlang, sieht man also viele Leute bei der Arbeit - auch und gerade innerhalb der inneren Sperrzone mit zehn Kilometer Radius rund ums Kraftwerk. Wüsste man's nicht besser, hielte man die Region für ein weitgehend intaktes Industriegebiet. Die Strahlung ist freilich hoch: immer noch tausend Mikroröntgen unmittelbar am "Betonsarg", mit dem die Brandruine überzogen wurde. In der zum Greifen nahen Geisterstadt Pripjat sind es, je nach Wetterlage, zwischen 180 und neunzig Mikroröntgen. Zum Vergleich: Bei einem zweistündigen Flug in zehntausend Meter Höhe bekommt man gerade zwanzig Mikroröntgen ab. In derselben Größenordnung liegt die Strahlung am Rand der Sperrzone.

Neunzig Bauernsiedlungen und zwei Städte lagen innerhalb jenes Bannkreises von dreißig Kilometer Radius, aus dem über 100.000 Menschen umgesiedelt wurden. Aber gibt es nicht doch Menschen, die sich geweigert haben abzusiedeln, oder die aus Heimweh zurückgekehrt sind in ihre Häuser? Innerhalb der Sperrzone leben tatsächlich rund 450 Bauern. "Samosel" (Selbstsiedler) werden sie genannt.

Fischen und Jagen verboten

Offiziell freilich darf innerhalb der Sperrzone keine Landwirtschaft betrieben werden, Fischen und Jagen ist verboten, natürlich auch das Sammeln von Beeren und Pilzen. Davor warnen ausdrücklich große Tafeln, die entlang jener Straße stehen, die kerzengerade durch den Kiefernwald auf Tschernobyl zuführt. Bei einem Umkreis von fast 190 Kilometern und auf einer Fläche von rund 2.800 Quadratkilometern sind solche Verbote schwer durchzusetzen. 38 Prozent der gesperrten Region sind mit Wald bedeckt, 32 Prozent sind Grasland, zehn Prozent Wasserflächen. Der riesige Dnjepr-Stausee reicht ja von der ukrainischen Hauptstadt Kiew bis hinauf nach Tschernobyl. Dieser Ort liegt viel weiter vom Kraftwerk entfernt als Pripjat. Tschernobyl ist jetzt Wohn- und Aufenthaltsort von rund viertausend hier beschäftigten Menschen. Jede Woche von Montag bis Donnerstag sind sie hier, dann folgen drei arbeitsfreie Tage außerhalb der Strahlenzone. Es sind Wissenschafter, medizinisches Personal, Polizisten - vor allem aber Arbeiter. Einer der wichtigsten Aufgabenbereiche ist der Hochwasserschutz. "Die Wasser-Kompanie baut Dämme und Deiche", erklärt Nikolai Dimitriuk, der oberste Pressebeamte im "Tschernobyl Informationszentrum". Nicht auszudenken, wenn eine Überschwemmung wie jüngst im Elbe-Gebiet den Dnjepr und den Zufluß Pripjat über die Ufer treten ließe. Dann würde kontaminiertes Erdreich weggeschwemmt und das Trinkwasser der hundert Kilometer südlich gelegenen Drei-Millionen-Stadt Kiew verseucht.

Auf großen Plakattafeln wird auch eindringlich vor Feuer gewarnt. Das ist die zweite große Gefahrenquelle. Gerade in heißen Sommern wie in den vergangenen Jahren sind die Torfböden ausgetrocknet und es drohen Waldbrände. Große Mengen radioaktiven Staubs (Cäsium, Strontium, Plutonium) könnten in die Luft gelangen. "Auch nach sechzehn Jahren gibt es viele ungelöste Fragen - aber es sind keine Unfälle passiert in dieser Zeit", sagt Nikolai Dimitriuk. Anhand der Karte erklärt er die Lage der verstrahlten Zonen. Sie sind leider nicht mit jenem Kreisrund von sechzig Kilometern Durchmesser identisch, das evakuiert wurde. "Aus den Medien ist Ihnen sicherlich der Ort Naroditsch ein Begriff", sagt der Pressesprecher. Die dauernde Strahlenbelastung dort ist gleich groß wie in Tschernobyl - allerdings liegt Naroditsch dreißig Kilometer außerhalb der Zone: "Menschen gehen dort ihrer Alltagsbeschäftigung nach, Kinder gehen zur Schule." Ähnliches gilt für Gebiete nördlich, jenseits der ukrainischen Grenze. Weißrussland (die Regionen um Moisir und Gomel) und angrenzende Teile Russlands haben, bedingt durch die Wetterlage, die stärksten radioaktiven Wolken abbekommen.

"Nahrung und Kleidung der Arbeiter in der Sperrzone werden dauernd überprüft", sagt Nikolai Dimitriuk. Ganz verhindern lassen sich radioaktive Emissionen natürlich nicht. Aber nur 0,5 Prozent gehen auf Konto von Kleidung und Schuhen, ebenso wenig wird durch Tiere hinausgetragen. Am ehesten nimmt der Fluss verseuchtes Material mit sich. Besucher müssen am Ende der Tour durchs Messgerät - es ist ein gutes Gefühl, wenn kein Zeiger ausschlägt!

Nicht wenige Leute kommen nach Tschernobyl. Allein in diesem Jahr waren es bis Mitte September 1100 Menschen: Wissenschafter, Ärzte, Umweltschützer, Menschen, die humanitäre Hilfe leisten. "182 Delegationen konnten wir heuer hier begrüßen." 1985 waren die ersten Besuche innerhalb der Sperrzone möglich. Eine generelle Öffnung für Touristen kommt wohl nicht in Frage. "Aber wir haben großes Interesse an Opinion leaders", sagt der Pressebeamte. "Profit zu machen mit Besuchern ist ausgeschlossen, auch wenn eine Tschernobyl-Tour umgerechnet 1.700 Euro kostet."

Informationspolitik

Für die Besucher ist ein Informationszentrum eingerichtet, vielleicht 250 Meter vom Block vier entfernt, wo sich die Katatstrophe ereignete. Eine Mitarbeiterin erklärt dort am Beispiel eines zerlegbaren Modells die Konstruktion und Wirkung des Betonmantels. Durchs Fenster hat man direkten Blick auf den Betonsarg. Mit Fotos und Videobändern werden die Maßnahmen vorgestellt. Auf Displays ist die live gemessene Strahlenbelastung abzulesen. An der dem Unglücksort abgewandten Seite, sind es 53 Mikroröntgen. Vorne hinaus schwankt die Strahlung zwischen 165 und 171 Mikroröntgen.

Rund um das Kraftwerk wurden die Wälder abgeholzt. Ein Stück Wald blieb zu wissenschaftlichen Zwecken stehen. "Glauben Sie es ja nicht, wenn Sie irgendwo zu lesen bekommen, dass wir Besucher - um Ungefährlichkeit vorzugaukeln - zum Pilzesammeln in diesen Forst schicken", sagt die Führerin. "Die Strahlung wäre absolut gesundheitsgefährdend."

Die offizielle Website der "Chernobyl Inter Inform Agency" hat die Adresse: http://www.ic-chernobyl.kiev.ua/e.htm.

Wer Stimmen von der Gegenseite hören möchte: http://www.greenpeace.de/GP_DOK_3P/ZUSAMMEN/C02FF01.HTM.