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"Im Nachhinein gewinnbringend"

Von Walter Hämmerle

Politik

Wien glich heute, genau vor fünf Jahren, einer Stadt im Ausnahmezustand. Demonstranten hinderten die angehenden Mitglieder der schwarz-blauen Bundesregierung am überirdischen Gang zur eigenen Angelobung, die 14 EU-Partner froren mit sofortiger Wirkung ihre bilateralen politischen Beziehungen zu Österreich ein und Künstler und Intellektuelle forderten sogar noch weitergehende Boykottmaßnahmen. Aus Anlass des fünften Jahrestages sprach die "Wiener Zeitung" über die damaligen Ereignisse und ihre Folgen aus europäischer Perspektive.


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Aus heutiger Sicht ist die damalige Aufregung nur noch schwer nachzuvollziehen. Blau-Schwarz wurde im Herbst 2002 vorzeitig beendet, um wenige Monate später als Schwarz-Blau - und darüber hinausgehend deutlich veränderten Machtverhältnissen - wieder aufzuerstehen. Schon bei der Neuauflage Anfang 2003 war von Erregung über die einst so verfemte Regierungsbeteiligung der FPÖ nichts mehr zu spüren. Schulterzuckende zur Kenntnisnahme beschreibt wohl am ehesten die damals herrschende Stimmungslage. Aufregung, wenn auch positiv gefärbte, versprach den professionellen Beobachtern höchstens die grassierenden Spekulationen über eine Koalition von ÖVP und Grünen.

Für den Berliner Politikwissenschafter Alexander Siedschlag, der derzeit einen Lehrstuhl für europäische Sicherheitspolitik an der Universität Innsbruck inne hat, hatte die damalige Reaktion der EU mehr den Charakter einer "Selbstvergewisserungspolitik der Union" im Hinblick auf die bevorstehende Osterweiterung: "Österreich bot eine gute Gelegenheit zu zeigen, dass die EU nicht bereit ist, von gewissen Prinzipien abzurücken." Für Siedschlag waren die Maßnahmen der EU-14 daher in erster Linie an die beitrittswilligen Staaten Ost- und Mitteleuropas gerichtet, bei denen sich noch das eine oder andere Demokratiedefizit fand.

"Überzogen" fand die EU-Reaktionen schon damals der Vorstand des Stuttgarter Politikwissenschaft-Instituts, Oscar Gabriel. Problematisch wurden sie aus seiner Sicht vor allem dann, als nicht überall mit dem selben Maß gemessen wurde. Gabriel spricht damit vor allem den Regierungseintritt der italienischen Postfaschisten an - von bilateralen politischen Sanktionen war damals keine Spur.

Dass das damalige Vorgehen ursächlich mit der seither gestiegenen Skepsis der Österreicher gegenüber der Union zu tun haben könnte, glaubt Gabriel nicht. Diese habe vielmehr mit den Sorgen der Menschen im Zusammenhang mit der Erweiterung und dem Demokratiedefizit der europäischen Institutionen zu tun.

Österreich habe auch keine Vorreiterrolle für jene Staaten gespielt, die in den vergangenen Jahren in den Bereichen Asyl, Sicherheit und Integration einen politischen Rechtsruck vollzogen haben. "Nicht Österreich, sondern wiederum die Erweiterung und damit verbundene zusätzliche illegale Migrationsmöglichkeiten sind in Verbindung mit einer Desillusionierung in Bezug auf eine multikulturelle Gesellschaft dafür verantwortlich", ist Gabriel überzeugt.

Insgesamt beurteilt Siedschlag die Turbulenzen des Jahres 2000 als "gewinnbringendes Schlüsselerlebnis": Österreich habe für sich den Schluss gezogen, die eigenen nationalen wie europapolitischen Positionen selbstbewusst in Brüssel auf Experten- wie Politikerebene zu vertreten. Besonders spürbar sei dies etwa im Bereich der europäischen Sicherheitspolitik. Und die zuvor gern abgehoben agierende EU-Bürokratie wurde für die besondere Rolle nationaler Politik für den europäischen Integrationsprozess in dem Sinn sensibilisiert, dass "jeder Staat die Geschicke der EU mitbestimmt". Diese Erkenntnis mussten nicht zuletzt auch die großen EU-Staaten lernen.

Nachhaltigen Schaden habe das Ansehen Österreichs nicht genommen, sind sich beide Politologen einig. Die Politik des Landes bewege sich im "europäischen Mainstream", formuliert Gabriel. Und: "Es hat sich nicht viel verändert - und wenn, dann nicht unbedingt zum Schlechteren."