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Die Ausübung von Macht ist in einer Demokratie an die Legitimation durch das Volk gebunden.
Boris Johnson ist ein gewählter Abgeordneter des britischen Unterhauses. Seinen Wahlkreis, Uxbridge and South Ruislip im Großraum London, gewann er 2017 mit 50,8 Prozent, der Labour-Kandidat schaffte 40 Prozent. In seiner Zeit als Mandatar hat er vom Recht des freien Mandats üppig Gebrauch gemacht und gegen die Linie von Premierministerin May beim Brexit gestimmt. Hoffentlich, weil er den Kurs Mays für falsch hielt.
Aber May wurde immerhin von den Wählern gewählt. Johnson dagegen wurde zum Premier Großbritanniens, eines Staates mit 47 Millionen Wahlberechtigten, weil er sich bei einer Briefabstimmung unter den 160.000 Tory-Mitgliedern durchsetzte. Eine Legitimation durch das Volk hat dieser Premier nicht. Zum Vergleich: Sein Wahlkreis verfügt über 70.000 Wahlberechtigte.
Jetzt hat Johnson angekündigt, dass Abgeordnete seiner Fraktion, die gegen die Linie seiner Regierung stimmen, ausgeschlossen sowie mit einem Kandidaturverbot belegt werden würden. Auf diese Weise versucht der Premier, seine Brexit-Strategie durchzusetzen, nachdem sich zuvor abzeichnete, dass seine an eine Bananenrepublik gemahnende Strategie scheitern könnte, das Parlament durch eine Sitzungspause davon abzuhalten, seine No-Deal-Drohung gegenüber der EU per Mehrheitsvotum zu unterbinden.
Es versteht sich von selbst, dass Johnson auch für seinen No-Deal-Poker über keinen demokratischen Auftrag verfügt. Sowohl im Parlament als auch in der Bevölkerung wird ein EU-Austritt ohne Abkommen mehrheitlich abgelehnt.
Jetzt, nachdem die Chancen einer Niederlage im Parlament steigen, zieht Johnson seinen letzten Joker: schnelle Neuwahlen noch vor dem angestrebten Austrittstermin am 31. Oktober und im Angesicht des Brexit-Chaos. Eines Chaos, für das Johnson selbst gehörig Mit-Verantwortung trägt.
Man will es nicht glauben: Aber Johnsons Chancen, diese Wahl zu gewinnen, sind intakt. Einfach, weil schwer vorstellbar ist, dass eine Mehrheit der Briten für die Alternative stimmen könnte; Labour-Chef Jeremy Corbyn ist ein Altlinker, der die EU schon immer als Butter in der Hand von Kapitalisten betrachtete.
Dass es geschehen konnte, dass die älteste Demokratie keine mehrheitsfähige Alternative aufzubieten vermag, wenn sich eine Regierungspartei als hartnäckig unfähig erweist, zeigt das Ausmaß des Systemversagens. Auch Neuwahlen werden keine Lösung bringen, wenn es nur die Wahl zwischen zwei Übeln gibt.